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34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer

34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer

Titel: 34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Reich
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angeschaut, und glauben Sie mir: Alle Wünsche sind noch da, keiner verkümmert.«
    »Das ist ja das Problem«, sagte Ella.
    »Ich weiß«, sagte Horowitz, »aber es ist auch eine Gabe. Hören Sie, wie die Wellen um unser Boot herum plätschern?«
    »Ja«, sagte Ella, »ganz leise.«

2. Teil
    Die Vermehrung der Häfen
    To multiply the harbors does not reduce the sea.
    Emily Dickinson

15
    Montagmorgen. Der Innenhof kam Horowitz jetzt schon nicht mehr ganz so schäbig vor. Horowitz lief an dem Brautladen, dem Optiker und dem Sanitätshaus vorbei. Auf der ganzen Chausseestraße kein Friseur. Er bog um zwei weitere Ecken, auch da kein Friseur. Ein Kosmetiksalon (»Frisieren Sie auch?« »Nein, wir sind kein Friseur.« »Ach so, verzeihen Sie, danke, Wiedersehen.« »Wiedersehen«), eine Drogerie, ein Blumenladen, gut zu wissen, aber kein Friseur. Er musste unbedingt zum Friseur, seine Haare waren in einem schrecklichen Zustand. Eigentlich musste er sich auch noch ein Parfum kaufen und ein neues Hemd, aber zuerst musste er zum Friseur. Mit diesen Haaren konnte er sein erstes Rendezvous seit Jahren nicht bestreiten. Aber zum Friseur zu gehen war auch eine Qual. Vielleicht erst mal einen Kaffee. Dieses da, direkt an der Ecke, das kleine, da würde er einen Kaffee trinken und die Kellnerin nach einem Friseur fragen.
    Das Café war ziemlich voll und karg eingerichtet: ein paar weißgestrichene Holztische, auf denen Tulpen in kleinen Limonadeflaschen steckten, vier kleine gerahmte Fotos von Straßen, Wegen und Kreuzungen an der Wand, blau-weiß gestreifte Kissen auf der Fensterbank.
    Sechs Männer und eine junge Frau saßen herum, nur zwei unterhielten sich, die restlichen Gäste blätterten in Zeitschriften. Die junge Frau tippte auf ihrem Telefon herum. Was machten diese Menschen hier alle Montagmorgens um halb zehn? Waren sie arbeitslos? Wohl kaum, die Stimmung hatte nichts Niedergeschlagenes, eher etwas sonntäglich Erschöpftes. Die Frau mit dem Telefon war Studentin, sie hatte ein Buch von Max Weber neben sich liegen, und den liest man in der Uni oder gar nicht. Die Männer sahen aus wie Schuljungs, trugen Turnschuhe in grellen Farben, rutschende Hosen und komische Haarschnitte und hatten trotzdem schon ein paar Falten und den einen oder anderen ausgebeulten Tränensack. Sie erinnerten ihn allesamt an seinen Neffen.
    Horowitz hatte immer gedacht, sein Neffe wäre ein Individualist mit einem ganz eigenen Stil, ein Künstler, aber in Wahrheit trug er eine Uniform, genau das, was alle trugen. Er war überhaupt kein Individualist. Das musste er seiner Schwester erzählen, das würde ihr gefallen: Ihr Sohn war ein Soldat, ein Konformist, er war wie alle anderen.
    Die Kaffeemaschine zischte und röhrte, als führe sie gleich los, und wenn das Zischen mal nachließ, konnte man die Beatles hören.
    »Sie müssen sich Ihren Kaffee selbst holen«, sagte ein junger Mann, der neben ihm auf der Fensterbank saß und neongelbe Armbänder trug. Er blätterte mit durchsichtig lackierten Fingernägeln in einem Magazin, das Mädchen in verrenkten Posen zeigte, mit Schuhen, die wie Zentaurenstiefel aussahen. Was waren das für Magazine, die sich da neben ihm auf einem kleinen Hocker stapelten? Kein Spiegel , kein Stern , nur seltsame Titel und komische Formate.
    »Ach so«, sagte Horowitz und erhob sich, »danke.«
    Der Mann hatte tatsächlich durchsichtig lackierte Fingernägel. Horowitz hatte nichts gegen Homosexuelle, gar nichts, aber dieser junge Mann schien nicht homosexuell zu sein, er hatte einfach nur lackierte Fingernägel, vielleicht ein Nagelpilz, der Arme.
    »Viel Spaß«, murmelte der junge Mann noch, deutete mit dem Kopf auf die Kellnerin und blätterte weiter. In seinem Blick lag etwas Verschwörerisches. Wie konnte ein Mann mit Klarlack auf den Fingernägeln denken, dass sie beide Teil derselben Verschwörung sein könnten?
    Horowitz ging zum Tresen. Von der Kellnerin waren nur ihr Rücken in einem hellen, seidigen T-Shirt zu sehen und ein goldblonder Schopf. Sie beugte sich nach unten, um eine neue Milchtüte zu holen, dann tauchte sie wieder auf (lange, niedergeschlagene Wimpern, schmaler Nasenrücken), drehte den Dampfhahn zu, goss mit graziler Geste den Milchschaum in die bereitstehende Tasse, stellte die mattsilberne Kanne zur Seite und schaute ihn erst dann mit einem eindringlichen Blick an.
    Große grüne Augen unter den langen Wimpern, geschwungene Augenbrauen und eine Narbe, die wie ein Pfeil von der Schläfe auf

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