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34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer

34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer

Titel: 34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Reich
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interpretierte. Sie musste sich also ganz auf ihr Gefühl verlassen. Doch genau diesem Gefühl misstraute sie gerade grundlegend. Und damit schwand die einzige Gewissheit, die ihr noch nie abhandengekommen war.
    Ihr Leben lag auf einmal in unverbundenen Einzelteilen vor ihr, wie ein Steinbruch, und sie hatte keine Ahnung, was sie mit all diesen hartkantigen Würfeln anfangen sollte. Sie sah nur noch rohen Stein und keine Bedeutung mehr, in kleine Würfel gehauene Steine und keinen Weg mehr, den sie damit pflastern konnte. Wie gerne wäre sie jetzt so katholisch wie Natalia oder so pragmatisch wie ihre Schwester gewesen. Jasmin konnte immer sagen, wem was warum nützte, und alles andere beiseitelassen, und Natalia konnte beten.
    Ella starrte durch das trübe Glas des Aquariums. Sie hatte weder Fische noch Tulpen parat, um es füllen zu können. Sie stand auf und fuhr mit dem Finger die silberne Kante des Aquariums entlang. Das Metall war staubig und stumpf. Horowitz hatte über das Meer geforscht und ertrug es trotzdem, ein leeres Aquarium in seiner Wohnung zu haben, das er Wrack seiner Möglichkeiten nannte. Wenn er keine Antwort auf ihre Fragen hatte, wer dann?
    Ella rief in ihrer Wohnung an, Horowitz nahm den Hörer ab.
    »Hallo, Horowitz.«
    »Ella, wie schön, dass Sie anrufen! Geht es Ihnen gut?«
    »Nein«, sagte Ella, »überhaupt nicht, aber fragen Sie bitte nicht weiter. Geht das?«
    »Natürlich geht das«, sagte Horowitz.
    »Ich muss Sie nämlich etwas fragen.«
    »Alles, was Sie wollen«, sagte Horowitz ernst.
    »Ich frag Sie das nur, weil ich nicht weiß, wen ich es sonst fragen soll, und weil Sie ja jetzt in meinem Leben wohnen.«
    »Fragen Sie, Ella, ich bezweifle, dass gerade ich Ihnen helfen kann, aber…«
    »Haben Sie es gefunden?«, fragte sie.
    »Was?«
    »Mein Leben.«
    »Sagen Sie bloß, Sie haben es hier vergessen?«, fragte er mit verschmitzter Stimme. »Ich kann’s ja mal suchen, wie sieht es denn aus?«
    »Schön, dachte ich immer, schön und bunt, voller Wünsche, eben genauso, wie ich es mir immer vorgestellt habe…, aber jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher, bin mir überhaupt mit diesem ganzen Wünschen nicht mehr so sicher.«
    Ella hörte, wie Horowitz in der Wohnung herumging, Rascheln. Dann antwortete er plötzlich: »Ach, hier ist es ja, ich hab’s gefunden. Und soll ich Ihnen was sagen: Es ist genauso schön und bunt, wie Sie es sich vorstellen.«
    »Glauben Sie das wirklich?«
    »Wissen Sie, Ella, ich denke viel über mein Leben nach, seitdem ich nicht mehr in meiner Wohnung bin. Und ich ahne langsam, dass jeder für sich selbst entscheidet, ob das, was von ihm sichtbar ist, für ihn wichtiger und realer ist, oder das, was von ihm verborgen bleibt. Ich für meinen Teil glaube, dass unsere Vorstellungen der Realität vorausgehen und ihr den Weg bahnen…«
    »Hm«, sagte Ella.
    »Mit uns Menschen ist es doch wie mit der Sprache: Das, was wirklich wichtig ist, wird verschwiegen, blitzt vor allem zwischen den Zeilen hervor. Wenn ich mal im Sterben liege und mich frage, wer ich gewesen bin und was für ein Leben ich gelebt habe, dann werden meine Wünsche, Ziele und Vorstellungen – ob sie sich realisiert haben oder nicht – mindestens so prägend für mein Leben gewesen sein wie das, was Gestalt angenommen hat. Das ist doch sehr tröstlich, oder nicht?«
    »Glauben Sie das wirklich?«
    »Ich weiß es.«
    Ella seufzte.
    »Kann ich Ihnen irgendwie helfen, Ella? Sie klingen wirklich angeschlagen.«
    »Ich weiß nicht«, sagte Ella.
    »Soll ich vielleicht auf Ihr Leben aufpassen, bis Sie es wieder abholen?«
    »Würden Sie das für mich tun? Ich kann es nämlich gerade nicht«, sagte Ella, und der Traurigkeit ihrer Stimme war nun Erleichterung beigemischt.
    »Natürlich, Ella. Wenn Sie wüssten, was Sie für mich getan haben… Ich hoffe, ich trete Ihnen nicht zu nahe, aber ich glaube, wir sitzen auf eine seltsame und schicksalhafte Art im selben Boot.«
    »Im selben Boot?«, wiederholte Ella.
    »Und soll ich Ihnen was verraten: Mein Leben ist auch nicht mit umgezogen.«
    »Brauchen Sie es denn?«
    »Nein«, sagte Horowitz, »denn ich habe es aus gutem Grund vergessen. Es hat aus dem allerletzten Loch gepfiffen.«
    »Und jetzt?«
    »Keine Ahnung. Ein anderes vielleicht«, sagte Horowitz, »falls es so etwas gibt.«
    »Ich wünsche es Ihnen«, sagte Ella.
    »Dann wird es klappen«, sagte Horowitz und hakte nach: »Ella?«
    »Ja?«
    »Ich habe mir Ihres gerade noch mal genauer

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