34 Meter über dem Meer - Reich, A: 34 Meter über dem Meer
der schluchzenden Schule von Negern , schrieb sie einmal, nein, ich weine nicht über die Welt, ich bin viel zu sehr damit beschäftigt, mein Austernmesser zu schärfen «, fuhr Ella fort.
»Ha!«, rief Natalia aus. »Das ist gut. Ich schärfe auch schon seit Jahren mein Messer, aber ein Austernmesser? Das klingt noch eine Nummer schärfer.«
»Und weißt du, wie das Buch heißt, das sie über ihr Leben geschrieben hat: Ich mag mich, wenn ich lache «, sagte Ella und wurde plötzlich ganz still.
»Schöne Geschichte«, sagte Natalia. »Und wie geht sie aus?«
»Wieder kein Happy End. Sie ist auch einsam und verlassen gestorben wie Hester und Dorothy. Ich verstehe das einfach nicht.«
»Warum sagst du das so komisch? Meinst du etwa, uns könnte das auch passieren?«, fragte Natalia. »Niemals! Du wirst umringt sein von deinen Verehrern oder deinen Ehemännern oder lauter kleinen Kindern mit großen Nasen und zu einer Radiolegende geworden sein, und ich…, also, wenn bei mir alles so klappt, wie ich mir das vorstelle, dann lande ich in Las Vegas oder Hollywood unter einem strassverzierten Grabstein, und meine Fans pilgern scharenweise zu mir hin. Also bei mir wird das sicher nichts mit letzter Ruhe, Einsamkeit und so…«
»Klar«, sagte Ella und musste lachen. Nach einer Weile fragte sie: »Wovor hast du eigentlich am meisten Angst?«
»Na, vor was wohl? Vor dem Tod natürlich.«
»Und vor dem Leben?«
»Vor dem Leben?«, fragte Natalia. »Nie.«
»Ich schon«, sagte Ella und wunderte sich über Natalias Antwort.
»Mein Problem ist doch, dass ich nicht genug davon abbekomme«, sagte Natalia. »Wenn ich große Brüste hätte, dann wäre alles anders. Dann könnte es endlich losgehen, dann wäre ich Sängerin und müsste auch nicht mehr so viel arbeiten. Aber bald hab ich’s ja zusammen, das Geld, und dann geht’s endlich los.«
»Und was ist das jetzt alles?«
»Das ist nur die Vorbereitung… Anders kann ich das nicht denken, sonst wär’s echt schlimm. Morgen komm ich übrigens raus«, sagte Natalia.
»Du hast doch aus dem Ohr geblutet.«
»Das sagst du immer, aber es stimmt nicht. Ich hab den Doc gefragt. Kein Tropfen, Ella, kein einziger Tropfen.«
»Seltsam«, sagte Ella und sah das Bild noch einmal ganz deutlich vor sich, wie das Blut im Sekundentakt aus Natalias Ohr auf den Asphalt tropfte.
Ella schwieg.
»Und weißt du, was ich als Erstes mache, wenn ich aus dem scheiß Kasten hier rauskomme?«, fragte Natalia und fuhr ohne Pause fort: »Oder nein, viel besser, ich verrat es dir nicht, das wird eine Überraschung für dich. Nur für dich! Da wirst du Augen machen.«
17
»Haben Sie was gesagt?«, fragte der Taxifahrer.
»Nein, nein«, antwortete Horowitz nervös, »nur laut gedacht.«
»Sibylle, Sibylle, Sibylle«, hatte Horowitz vor sich hingemurmelt, und anscheinend nicht ganz lautlos. Er konnte sie nicht mehr »Ellas Mutter« nennen (was alles schon kompliziert genug machte), wiederholte aber fortwährend ihren Namen, um seine Nervosität auf drei Silben fädeln zu können: Si-byl-le – Prophetin, Orakel, Meisterin der Doppeldeutigkeit; Sibylle, Name zweier gesunkener U-Boote der französischen Marine, Sibylle…
Vielleicht sollte er Sibylle eine Nachricht im Hotel hinterlassen, dass er krank geworden, oder besser: dass ein Termin dazwischengekommen sei, ein unaufschiebbarer Termin. Vielleicht sollte er sie doch wieder »Ellas Mutter« nennen, denn das war sie: Ellas Mutter. Er sollte doch auf Ellas Leben aufpassen, und zu diesem Auftrag gehörte ein Rendezvous mit ihrer Mutter mit Sicherheit nicht. Noch dazu wusste er überhaupt nicht, wie man so ein Rendezvous beging, oder was auch immer man mit einem Rendezvous machte. Wie sollte dieser Abend bloß gelingen, wenn ihm nicht einmal die richtige Vokabel dazu einfiel? Beging man ein Rendezvous, oder handelte man es ab oder bestritt man es? Er strich sich durch die frisch frisierten Haare, die sich unangenehm anfühlten, weil Colonel Schneider ihm Creme hineingeschmiert hatte, um ihnen mehr Glanz zu verleihen. »Glänzen, das wollen wir doch alle!«, hatte Colonel Schneider noch gesagt. Und Colonel Schneider war mitnichten der strenge Haarmeister, den ein solcher Name vermuten ließ, sondern eine junge norddeutsche Schönheit im kurzen Blümchenkleid, die beim Haareschneiden eine Platte nach der anderen auflegte und von Viehzucht, Adventskalendern und ihren zahlreichen Nichten erzählte.
Wie sollte er Sibylle nur begrüßen? Mit
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