34° Ost
dass Sie und die sowjetische Flagge von einem amerikanischen Luftpiraten bedroht wurden.«
Rostow unterdrückte den Impuls, ebenso schroff zu antworten. Morosow und seine Kriegsfalken waren orthodoxer als Stalin, leninistischer als Lenin. Obzwar Rostow selbst oft dieselben antiamerikanischen Schlagworte gebrauchte, gab er nie vor, an sie zu glauben. Wenn man sich an abgekämpfte Vietkongs oder Rote-Khmer-Partisanen wandte, mußte man natürlich von ›Kriegshetzern‹, ›Luftpiraten‹ und sogar von ›faschistisch-imperialistischen Aggressoren‹ sprechen. Das Vokabular der Revolution neigte zu Übertreibungen und war deshalb für die naiven Kämpfer des Dschungelkrieges und die Untergrundzellen der Großstädte geeignet. Aber dass ein Marschall der Sowjetunion im Gespräch mit dem Stellvertretenden Ministerpräsidenten sich solcher idiotischer Propagandaphrasen bediente, war zu diesem äußerst kritischen Zeitpunkt ein Grund für ernste Besorgnis.
»Das ändert nichts an der Tatsache«, sagte Rostow, »dass wir die Informationen zur Verfügung hatten, sie aber nicht an die Amerikaner weitergaben, sondern uns auf das Funktionieren eines ziemlich obskuren Spionagenetzes verließen. Damit war die Garantie gegeben, dass die Amerikaner annahmen, wir hätten die Bilder vorsätzlich zurückgehalten, bis es für Gegenaktionen zu spät war. Ich habe mit General Tate gesprochen und weiß, wovon ich rede.«
»Ah, Tate, der Aristokrat, der an russischer Kriegsgeschichte interessiert ist«, sagte Morosow ironisch. »Ulanins Freund.«
»Ja, der. Er ist hier in der Zentralen Zone. Ich kann mir kaum vorstellen, dass sie uns angreifen wollen, während Tate und Ulanin gemeinsam Pläne machen, wie man Bailey befreien könnte.«
»Ihre Gutgläubigkeit ehrt Sie, Genosse Rostow. Darf ich Ihnen mitteilen, dass niemand hier in Moskau Ihre euphorische Meinung über die Absichten der Amerikaner teilt. Wir sehen ja, was sie treiben.«
»Kommen wir noch kurz auf die Satellitenfotos zurück, Genosse Marschall. Haben Sie uns den verantwortlichen Offizier geschickt?«
»Falls sich keine Verzögerungen ergeben, müßte er gegen Abend bei Ihnen eintreffen. Aber ich möchte eines betonen: Die Entscheidung, ihn nach Sinai zu bringen, damit er dort seine Schuld eingesteht, entsprang politischen Erwägungen. Wir Militärs waren dagegen.«
»Das überrascht mich nicht«, sagte Rostow. Militärs, ganz gleich welches Staates, waren seit jeher gegen Bloßstellungen allergisch. Außerdem hätte ein solcher Fehler eines Mitglieds des GRU fast sicher zur Folge, dass die Abwehr der Sowjetarmee eines ihrer eifersüchtig gewahrten Vorrechte – nämlich die Auswertung der Satellitenbilder – an das zivile Komitee für Staatssicherheit, das KGB, verlieren würde. Rostow seufzte. Er wünschte, die Techniker hätten ihm ein Glas Wasser bereitgestellt. Im nächsten Moment sah er ein, wie töricht es war, sich jetzt über solche Kleinigkeiten zu ärgern. Die Welt schien einer Katastrophe entgegenzutorkeln – und Anatolij Igorewitsch Rostow, Stellvertretender Ministerpräsident der Sowjetunion, war unglücklich darüber, dass seine Kehle ausgedörrt war. Die Erde ist von Schwachsinnigen bevölkert, dachte er.
»Der Genosse Vorsitzende wird jetzt mit Ihnen sprechen, Genosse Rostow«, sagte Morosow. »Nur noch ein letztes Wort: Bei Ihren Verhandlungen mit den Amerikanern brauchen Sie sich keine Beleidigungen gefallen zu lassen. Wir sind auf alles, was kommen könnte, in vollem Umfang vorbereitet.«
Schwachsinnige? dachte Rostow. Nein, Amokläufer, Roboter, selbstmörderische Irre. Wodurch unterschied sich ein Marschall Morosow letzten Endes von Enver Leč oder diesen arabischen Wegelagerern? Eine saubere Uniform und acht Reihen bunter Bänder auf der Brust waren anscheinend Legitimation genug, die Welt in die Luft zu sprengen, ebenso wie dreckige Lumpen, automatische Waffen und Phrasen der Arabischen Befreiungsfront. Er fühlte, dass seine Hände zitterten, und er faltete sie. Während seines ganzen Lebens war er höchstens einem Dutzend Berufssoldaten begegnet, die ihre Aufgabe in der modernen Welt wirklich begriffen hatten: den Frieden zu erhalten, jeden Frieden, der ein normales Leben und den Weiterbestand der Welt gewährleistete. Ulanin war einst solch ein Soldat gewesen. Und dieser William Tate schien aus dem gleichen Holz geschnitzt. Beide, der alte und der jüngere, waren Kämpfernaturen, das spürte man sofort.
Aber weder General Tate noch
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