34° Ost
vorgefunden. Nun konzentrierte sich sein Greisengedächtnis auf diese Ereignisse, und er schalt sich selbst, weil ihm seine Phantasie Täuschungen vorgespiegelt hatte. Seit vielen Jahrhunderten gab es auf der Sinaihalbinsel keine Sarazenen mehr. Die vermodernden Gebeine vieler Generationen von Mönchen im Ossarium unter seiner Obhut zeugten vom unaufhaltsamen Gang der Zeit.
Doch irgend jemand hatte die Schafhirten getötet und irgend jemand hatte ihm fast die ganze knorrige Hand weggeschossen, und wenn es keine Sarazenen waren, dann waren es gewiß Sendboten der Hölle.
Er drehte den schmalen Kopf auf dem harten Kissen, um sich im Raum umzublicken, und da bemerkte er, dass er nicht allein war. Neben dem Bett stand ein blonder junger Mann mit breitem Gesicht, in einer fremden Uniform. Als er sah, dass die Augen des Mönches offen und klar waren, lächelte er und sagte etwas in einer Sprache, die der alte Mönch nicht verstand, aber sie klang ähnlich wie das Russisch, das einer der Diakone im Katharinenkloster manchmal sprach.
Bruder Anastasius antwortete in seinem angestammten mazedonischen Griechisch mit leiser Stimme, aber mit einer Eindringlichkeit, die den sowjetischen Sanitäter überraschte: »Ich danke dir für alles, was du für mich getan hast. Der Segen unseres Herrn Christos Pantokrator sei mit dir.«
Der junge Mann lächelte wieder, trat zur Tür und ließ zwei andere Uniformierte und einen Zivilisten ein. Einer der beiden Soldaten war grauhaarig und hatte viele Auszeichnungen. Der andere, jüngere, trug Hemdbluse und Hose aus grünbraun gesprenkeltem Stoff, was Bruder Anastasius beunruhigte, denn nun erinnerte er sich, dass er in Feiran, in dem von Schussblitzen durchzuckten Zwielicht, Gestalten in solcher Kleidung gesehen hatte. Am Ärmel trugen beide Soldaten das Abzeichen mit dem Ring und den Pfeilen, das der Mönch als Symbol jener Männer erkannte, die nach Sinai gekommen waren, um, wie sie sagten, ›den Frieden der Welt zu wahren‹ – als ob sich geringe Sterbliche das Walten Gottes anmaßen dürften.
Behutsam sprach ihn der Zivilist auf griechisch an: »Wie fühlt Ihr euch, Ehrwürdiger Vater?«
»Ich bin kein Priester, mein Sohn, sondern nur ein Mönch des Katharinenklosters«, sagte Anastasius leise.
»Wie fühlst du dich, Bruder?«
Der Greis holte tief Atem. »Besser, Gott sei gepriesen. Ich danke meinem Schöpfer für seine Gnade.«
Der Zivilist sprach mit den Soldaten englisch. Anastasius verstand nur wenige Worte. Dann wandte sich der Fremde ihm zu. »Bruder, bist du kräftig genug, um mit uns zu reden?«
»Ja. Ich habe euch etwas zu sagen. Unsere Schafhirten wurden von Unbekannten überfallen. Es war in Feiran. Ich bin weit gewandert …«
»Das wissen wir, Bruder. General Ulanin hier hat dich in die Zentrale Zone gebracht.«
»Die Toten müssen ein christliches Begräbnis erhalten«, sagte Anastasius. »Die Beduinen von Sankt Katharina glauben an unseren Herrn Jesus.«
»Es wird geschehen.«
»Sind das hier die neuen Russen?«
»Der General, ja. Und auch der junge Mann, der deine Wunde verbunden hat. Der andere ist Amerikaner.«
Anastasius runzelte die Stirn. »Die neuen Russen haben die Kirche aus ihrem Land vertrieben«, sagte er streng.
Der Dolmetscher übersetzte die Worte des Mönchs mit der gebotenen Schärfe. Ulanin zuckte die Achseln.
»Du heißt Anastasius?« fragte der Zivilist.
»Das ist mein Name in Christo.«
»Im Fiebertraum hast du gesprochen, Bruder Anastasius.«
Der Mönch seufzte und schloß einen Moment die Augen. Diese Menschen um ihn hatten einen Akt der Nächstenliebe gesetzt, aber sie hatten seine persönliche Sphäre nicht geachtet. Wahrscheinlich mußte man das von einem Volk erwarten, das sich von Gott abgewandt hatte.
»Ich gehöre als ziviles Mitglied dem UN-Beobachterverband auf Sinai an und bin Zypriote«, erklärte der Dolmetscher.
»Griechischer Zypriote«, sagte Bruder Anastasius, der diesen Männern zeigen wollte, dass er, obgleich in der Abgeschlossenheit eines Klosters lebend, dennoch wußte, was draußen in der Welt vorging.
»Ja, griechischer Zypriote«, stimmte ihm der Mann bei. »Hör mir nun bitte genau zu, Bruder Anastasius.«
Der Mönch nickte. Das Bett, in dem er ruhte, war über Gebühr sauber und bequem, doch er sehnte sich nach seiner vertrauten Zelle neben dem Ossarium.
»Die Männer, die deine Schafhirten angegriffen hatten, haben das Kloster besetzt und noch andere Untaten begangen.«
Anastasius erschrak. Der
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