34° Ost
Draht? Mit wem soll ich sprechen? Wer ist überhaupt dieser Beal? Ich kenne ihn nicht, niemand kennt ihn. Morosow meint, der Mann sei nichts als ein Werkzeug in den Händen der Kriegstreiber und der Faschisten. Ich kann ihn nicht als Autorität anerkennen, solange Talcott Bailey am Leben ist. Im Moment gibt es in Washington keinen Verhandlungspartner für uns.«
»Dann beantragen Sie wenigstens die sofortige Einberufung des UNO-Sicherheitsrates. Appellieren Sie an das Weltgewissen, diese gefährliche Eskalation zu stoppen.«
»Das tun wir sowieso«, sagte der Ministerpräsident gereizt. »Kerjakin hat seine Instruktionen, und für morgen Vormittag ist eine Sitzung des Sicherheitsrates einberufen. Alles gut und schön, aber was nützt das? War der Sicherheitsrat je etwas anderes als ein Forum, in dem sich alte Männer gegenseitig Beleidigungen an den Kopf warfen?«
Der alte Ministerpräsident blinzelte ins Kameraobjektiv, und wieder fiel Rostow diese Verdrossenheit auf. Kein Zweifel, der Staatschef wurde von jüngeren, radikaleren Kräften überspielt. Rostow erinnerte sich an den Sturz Chruschtschows nach dem schmählichen Ende der kubanischen Raketenaffäre. Auch der alte Ministerpräsident mochte dieses Beispiel vor Augen haben und sich sagen, er dürfe keinen einzigen Schritt vor der sich anbahnenden Konfrontation mit den Amerikanern zurückweichen, sonst würde es ihm wie Chruschtschow ergehen. Aber die Alternative war so grauenvoll, dass Anatolij Rostow schauderte.
»Trotzdem glaube ich, dass Sie mit den Amerikanern sprechen müßten, Genosse Ministerpräsident«, sagte er. »Bieten Sie unsere Unterstützung bei der Befreiung Baileys an, und geben Sie ihnen die Zusicherung, dass wir uns in jeder nur möglichen Weise dafür einsetzen werden, die Terroristen der gerechten Strafe zuzuführen. Ich bin bereit, hier in diesem Sinn zu arbeiten. Eigentlich habe ich es schon getan.«
»Seien Sie kein Narr, Rostow. Bailey ist so gut wie tot. Keine Macht kann ihn aus den Klauen dieser Irren retten.«
»Ich schlage nur vor, dass Sie Ihrer Bereitschaft Ausdruck geben.« Rostow zögerte, dann straffte er sich und fuhr fort. »Und Sie sollten es ihnen klarmachen, dass unsere Militärmaschinerie auf Friedenstouren läuft und dass wir keinerlei Schritte unternehmen, die als feindselige Aktion aufgefasst werden könnten. Das ist der einzige Ausweg, sonst kommt es zu einer Tragödie.«
Stumm starrte der alte Mann ins Leere. Schließlich sagte er langsam: »Das kann ich nicht tun.«
Rostow biss sich auf die Lippen. Natürlich war das unmöglich. Morosow und seine Krieger würden es verhindern. Doch er wußte, dass sonst keine Entspannung der Lage herbeigeführt werden konnte. Slawischer Fatalismus erfasste ihn. Der Moloch war in Bewegung und stampfte immer rascher voran. Wahrscheinlich war es für die Abwendung des Unausweichlichen bereits zu spät. Er sagte: »Ich verstehe. Soll ich nach Moskau zurückkehren?«
»Nein, bleiben Sie, wo Sie sind.« Die Greisenaugen schienen plötzlich aufzuleuchten, als wollten sie durch die Kamera eine ungeheuer wichtige Botschaft übermitteln, die vor den anderen in der unterirdischen Kommandozentrale nicht ausgesprochen werden durfte. »Tun Sie Ihr möglichstes, Anatolij Igorewitsch …«
Als Bruder Anastasius die Augen öffnete, sah er die weiße Decke eines hellen Raumes in kaltem Licht. Er fühlte sich schwach und unsicher, aber zumindest waren die teuflischen Visionen geschwunden, die ihn bedrängt hatten, und dafür dankte er Gott.
Er lag im Bett eines, wie er richtig vermutete, blitzsauberen modernen Krankenzimmers, dem noch immer ein leichter Neubaugeruch anhaftete. Die Mauern bestanden aus getünchten Betonziegeln, und den Boden deckten blanke Plastikfliesen. Einen ähnlichen Raum hatte er vor langer Zeit gesehen, auf einer Pilgerfahrt vom Kloster nach Jerusalem. Die betriebsamen Juden hatten die Mönche durch neue Viertel in jenem Stadtsektor geführt, den sie den jordanischen Arabern weggenommen hatten.
Die Alpträume von Sarazenen und blutigem Gemetzel waren verflogen, aber wenn er daran zurückdachte, befiel seinen ausgemergelten Körper ein Zittern. Doch es hatte tatsächlich einen Kampf oder ein Massaker gegeben. Die stechenden Schmerzen in seinem rechten Arm genügten ihm als Beweis. Nun fügten sich die Bilder deutlicher aneinander: er war von dem Berg herabgestiegen, zu den Wassern von Feiran und seinen Freunden, den Beduinen, und dort hatte er namenloses Grauen
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