34° Ost
Feiran hinab. Seit fünfzig Jahren lebte Anastasius in der Gemeinde am Dschebel Musa, und seit fünfzig Jahren verrichtete er niedere Dienste zur höheren Ehre Gottes. Nun war er siebzig. Wüstensonne und Kamsin hatten seine Haut gegerbt und gefurcht; fast glich er der pergamentenen Mumie des heiligen Stephanos an der Pforte des Beinhauses.
Er war als junger Mann in die Gemeinde gekommen – vor so langer Zeit, dass er sich kaum noch seines früheren Lebens entsinnen konnte. Es gab verschwommene Erinnerungen an eine Kindheit zwischen den weißen Felsen und der heilen Sonne Mazedoniens, und an einen Vater, der ihn – als Buße für irgendwelche lässliche Sünden – für den Kirchendienst bestimmte. Doch für Bruder Anastasius waren Zeit und Raum zusammengedrängt auf das weltabgewandte Leben in den uralten Steinhäusern am Fuß des Berges.
Er bedauerte es nicht, sein Leben in klösterlicher Zurückgezogenheit verbracht zu haben. Er war von seinem Glauben erfüllt. Als eines der ältesten Mitglieder der Mönchsgemeinde genoß er das Privileg, das Kloster von Zeit zu Zeit verlassen und sich in die Berge zurückziehen zu dürfen, um dort zu meditieren und zu beten. Gleich den heiligen Männern des Ostens fastete er ganze Tage, allein mit der Sonne, dem Wind und – er war dessen sicher – mit Gott.
Anastasius wußte recht wenig über viele Dinge. Aber er wußte alles über den Orden der heiligen Katharina und über die Männer, die ihm – von den Zeiten des Kaisers Maxentius bis heute – gedient hatten. Zuweilen träumte Bruder Anastasius vom Märtyrertod. Er sah sich dann als einen der Pilger, die im Mittelalter von den Sarazenen hingemetzelt worden waren, oder auch (in Augenblicken einer ganz seltenen Selbstüberhebung) als die heilige Katharina selbst. Seit urdenklichen Zeiten waren ihre geheiligten Reliquien im Kloster aufbewahrt, bewacht vom heiligen Stephanos, der dort, bekleidet mit dem Megaloschemos, dem ›Engelsgewand‹, auf seinem Stuhl saß.
Gedankenversunken wanderte er in dieser Stunde des schwindenden Tages den schmalen Pfad nach Feiran hinunter. Sein Kopf war wie ausgeleert von der Sonne und zwei Tagen des Fastens, aber er fühlte sich tief bewegt und einer wundersamen göttlichen Offenbarung nahe. Dann, mit etwas praktischerem Sinn, dachte er daran, dass er in Feiran auf die Schäfer des Klosters stoßen, ihr Mahl mit ihnen teilen und vielleicht zusammen mit ihnen, die jetzt ihre Herden über die Bergpässe trieben, zum Kloster zurückkehren würde.
Seinen mit Sandalen bekleideten Füßen war der steinige Weg vertraut. Der Abendwind zerrte am groben Tuch seines Gewandes. In einiger Entfernung sah er schon die Palmen und Tamarisken der Oase. Ein roter Himmel wölbte sich über Feiran. Jenseits des Wasserlaufs, zwischen den langen Schatten der Palmen, sah er hellere Formen, Schafe, die die Beduinen für die Mönche hüteten. Er unterdrückte eine nahezu sündige Begierde nach dem Genuss von Käse und, vielleicht, einem Stück Hammelfleisch.
Die Zeit verging schnell in der Wüste, und Bruder Anastasius stellte sich manchmal vor, Sinai sei, nach dem Willen des Allmächtigen, ein kleines Abbild der äußeren Welt. Einer Welt, mit der das Kloster in den letzten Jahren nur wenig Berührung hatte.
Viele Touristen waren ins Kloster gekommen. Sie waren durch die steinernen Gänge und Räume getrottet und hatten die dort für ewige Zeiten bewahrten Reliquien begafft. Aber seit einiger Zeit gab es keine Touristen mehr, und überhaupt nur wenig Besucher. Hin und wieder erschienen Männer in khakifarbenen Uniformen und blauen Mützen und verlangten mit Vater Damián oder Diakon Elias zu sprechen, aber diese anderen Besucher aus der äußeren Welt, die Männer und Frauen, die in ehrfürchtiger Scheu vor dem Mosaik des Christos Pantokrator, des Allherrschers, standen, dessen ernstes, gütiges Antlitz seit der Zeit des Kaisers Justinian die Kuppel der Apsis zierte, sie kamen nicht mehr. Es war, so erschien es Anastasius, als sei die Zeit der Sarazenen von neuem angebrochen.
In der Senke des Wadis, in dem die Oase lag, wurde es dunkler, doch der Himmel schien noch röter als zuvor; die untergehende Sonne legte lange, breite Streifen über das Himmelsgewölbe. Das Schwinden des Lichts tauchte die Schatten in Bernstein und Gold. So vertraut ihm der Anblick eines Sonnenuntergangs auf Sinai auch war, Bruder Anastasius mußte stehenbleiben, auf dem felsigen Boden niederknien und, tief bewegt von der
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