34° Ost
Schönheit des scheidenden Tages, für sich allein ein Kyrie Eleison beten.
Er lag noch auf den Knien, als laut knatternde Geräusche an sein Ohr drangen. Bruder Anastasius hatte noch nie Schüsse gehört, und diese seltsam bedrohlichen Laute verwirrten und beunruhigten ihn. Langsam erhob er sich und blieb lauschend stehen. Die Geräusche kamen in unregelmäßiger Folge, jeweils sechs oder sieben, und aus verschiedenen Richtungen. Der rötliche Schein hatte sich zu Zwielicht gewandelt, doch in den Palmen- und Tamariskenhainen sah Bruder Anastasius jetzt gelbliches Licht aufblitzen und dünne Streifen eines noch nie gesehenen Feuers. Die Schafe schienen sich in zunehmender Panik ratlos im Kreis zu bewegen.
Hin und wieder stolpernd, von einer unbegreiflichen Sorge erfüllt, ging der alte Mönch auf die Oase zu. In diesem Land wundersamer Geschehnisse, wo Gott aus dem brennenden Dornbusch gesprochen hatte, wo ein von mystischem Feuer umloderter heiliger Berg stand … war es möglich, dass hier sich neue Wunder begaben? Schwankend, weil er ein alter Mann war, begann er zu laufen. Sein Atem ging pfeifend, sein Herz hämmerte.
Von der Oase her kam ein Schrei, ein wilder, schriller Schrei, ausgestoßen in Schmerz und Verzweiflung. Der Mönch hörte ihn deutlich. Kein Wunder Gottes konnte einen solchen Schmerzensschrei aus einer menschlichen Kehle pressen. Wenn dies ein Wunder war, so ein schwarzes, ein Werk des Teufels, Luzifers, des gefallenen Engels.
Jetzt konnte er auch andere Stimmen hören, und wie der erste waren auch diese Schreie der Qual, der Wut und des Grauens. Die Kette knatternder Geräusche riß nicht ab, und die Feuerblitze wurden immer heller, je mehr er sich dem Tamariskenhain näherte. Er hörte Männer in der Beduinensprache schreien, und andere Stimmen, zornig und befehlend.
Aus der Dunkelheit tauchte etwas vor ihm auf. Die letzten roten Sonnenstrahlen fielen auf eine Gestalt, die kaum noch menschlich zu sein schien. Laufend, springend, stolpernd kam sie heran. Es war ein Beduine, einer der Schäfer. Er hatte sein Keffijeh verloren, und seine schwarzen Haare wehten im Wind. Mit einem grauenhaften, rasselnden Geräusch stieß er seinen Atem aus. Ohne Anastasius zu bemerken, versuchte er an ihm vorbeizulaufen. Dann stürzte er zu Boden, wälzte sich herum und blieb auf dem Rücken liegen. Anastasius sah, dass die untere Hälfte seines Gesichtes fehlte. Nass und glitzernd rot endeten die Wangen am Oberkiefer, die Zähne, blutüberströmt, hingen über einem pulsierenden Krater, der unmittelbar in die Luftröhre überging. Die Augen rollten, erstarrten, wurden glasig.
Von Entsetzen übermannt, zitternd, bekreuzigte sich Bruder Anastasius und murmelte ein Totengebet. Als er an einem der Felsen, die den Pfad säumten, Halt suchte, sah er, dass seine Hand nass vom Blut des Beduinen war.
Der Alptraum nahm kein Ende. Er sah andere Männer laufen und kriechen. Die Explosionen wurden lauter, und nun begann der alte Mann allmählich zu begreifen, dass diese Laute von Waffen, von Feuerwaffen herrührten. Jemand schlachtete die Hirten ab, tötete sie, während sie liefen, während sie fielen, und selbst auch noch, während sie sich im Bach oder zwischen den Felsen verkrochen.
Im Dunkel schrie einer auf arabisch: »Laßt die Kamele nicht ausreißen, sonst ist alles umsonst!«
Nun begriff es auch der Mönch, dass die Beduinen ihrer Kamele wegen hingemetzelt wurden, fünfundzwanzig Menschen für zwei Dutzend Tiere.
Er umklammerte das Kruzifix, das um seinen Hals hing, ein grobgeschnitztes Holzkreuz mit den doppelten Querbalken der Griechisch-Orthodoxen. Stolpernd und taumelnd, das Kruzifix hocherhoben, warf er sich in das Gewirr laufender Menschen und Tiere. »Halt!« rief er. »Im Namen Gottes, haltet ein!«
Nur wenige Schritte war er vorwärtsgekommen, dann streckte ihn ein wuchtiger Schlag zu Boden.
Er lag im Schilf, das nahe dem Wasserlauf wuchs. Er hörte es im Wind knistern und rascheln. Der Lärm des Tötens kam von weit her. Seine linke Hand schmerzte schrecklich. Ob er sie wohl bei seinem Sturz verletzt hatte? Verworrene Gedanken stiegen auf, von Felsen, sengender Sonne, einsamen Gebeten … Christos Pantokrator! Verzeihe mir … Er hatte sein Kruzifix verloren, das seit fünfzig Jahren ein fester Bestandteil seines Lebens war.
Von einzelnen Schüssen abgesehen, war das Gewehrfeuer verstummt. Ein Kamel, das sich losgerissen hatte, sprang im Dunkel an ihm vorbei, bahnte sich raschelnd einen Weg
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