34° Ost
durch das Schilf. Er war plötzlich sehr durstig. Das Geräusch fließenden Wassers war eine Tortur, die Zunge klebte am ausgedörrten Gaumen.
In der Ferne rief eine Frau jemand zu, die Tiere einzufangen. Es war nicht die Stimme eines Hirtenweibs. Die Stimmen der Hirten waren alle verstummt.
Heilige Katharina, heiliger Stephanos, fragte er sich, ist mir ein Wunder widerfahren? Er suchte nach frommen, demütigen Gedanken, demütig, weil mit jedem Augenblick seine Überzeugung wuchs, dass er für einen Märtyrertod bestimmt war. Aber, heilige Katharina, dachte er, ich begreife es nicht. Sind die Sarazenen wiedergekommen?
Ganz weit draußen waren vereinzelte Schüsse zu hören. Die Sarazenen töteten die Verwundeten. Das Gefühl der Verzückung erstarb; Zorn überkam ihn angesichts solcher Verderbtheit. Fluch über sie! wollte er laut rufen. Die Stimme versagte ihm. Er bewegte sich, und mit der Bewegung verstärkte sich der rasende Schmerz in seiner linken Hand. Das Mantelgeschoß eines Kalaschnikow-Karabiners hatte seine Hand amputiert, und sein Blut versickerte im sandigen Boden von Feiran.
Tastend berührte er den Klumpen aus Fleisch, Knochen und Blut, und er begriff, dass die Sarazenen ihm seine Hand genommen hatten. Es hätte ihn in Panik versetzen sollen, aber in Anbetracht des grausigen Geschehens schien es ihm nur von geringer Bedeutung. Ich bin kein vollständiger Märtyrer, dachte er mit für ihn ungewohnter Ironie.
Mit viel Mühe wälzte er sich auf den Rücken und umklammerte das zerfetzte Gelenk, aber immer noch floß das Blut aus zerrissenen Adern und Venen. Er wußte, dass er es zum Stillstand bringen mußte oder er würde sterben. Angesichts solcher Gräuel war es eigentlich schwer, sich nicht einfach für den Tod zu entscheiden. Aber das Kloster mußte gewarnt werden, dass die Sarazenen nach tausendjähriger Abwesenheit zurückgekehrt waren.
Hätte er nicht diese Zähigkeit besessen, erworben durch lebenslanges Fasten und Entbehrungen, wäre er wohl in kurzer Zeit verblutet. Mit der rechten Hand löste er den derben Strick seines Gewands und legte ihn um den linken Unterarm. Die alten Fasern schmeckten bitter, als er sie mit Mund und Zähnen festhielt, um den Strick zu knoten.
Immer noch streiften die Räuber durch die finstere Oase und suchten mit Taschenlampen nach Überlebenden des Massakers. Ein Schuß, Stimmen, wieder ein Schuß. Lachen. Bruder Anastasius schloß die Augen und lag still im Schilf. Wieder begannen seine Gedanken zu wandern. Wie stand es in den Schriften des Theodolus: … hatten die Sarazenen beschlossen, mich und die Sklaven des Magathon ihren verabscheuungswürdigen Göttern zu opfern … Der Altar war errichtet, das Opfermesser geschliffen … Schale, Weihrauch und Blumengewinde standen bereit … Ich erwartete nur mehr den Tod, als Gott der Allmächtige seinen schützenden Schild … Gewiß, so sollte es sein. Wo konnte Gottes Macht größer sein als gerade hier, am Fuße seines heiligen Berges?
Lange hatte er unbeweglich gelegen, durstig, schmerzgequält, und den Sarazenen gelauscht, die sich ans Nordende der Oase zurückzogen, um dort ihr Lager aufzuschlagen, weil sie nicht zwischen den getöteten Beduinen schlafen wollten.
Schließlich zwang sich der alte Mönch zu einer vorsichtigen Bewegung. Die Schmerzen waren kaum zu ertragen, doch er gab nicht auf. Seine Sandalen waren fort, aber er grub die Fersen ein, drückte die Beine durch und schob sich zentimeterweise durch das Schilf auf das Wasser zu. Oft blieben die Enden des Strickes, der um sein verstümmeltes Handgelenk gebunden war, an einem Busch hängen, und es wurde ihm schwarz vor den Augen. Er biss sich auf die trockenen Lippen, bis Blut kam. Noch ein Stoß mit den Fersen, und dann Wasser, das plätschernd seine suchenden Lippen traf. Er trank, rollte sich dann zur Seite und kroch, sich auf seine gesunde Hand stützend, am Wasserlauf entlang. Er hoffte, die Sarazenen hätten mittlerweile ihre Suche nach den Überlebenden beendet. Es gelang ihm, sich irgendwie aufzurichten. Er kroch auf eine kleine Tamariske zu und lehnte sich gegen den Stamm. Von weither kamen die Stimmen der Mörder – stiller jetzt nach den schrecklichen Taten, die sie vollbracht hatten.
Für einen kurzen Augenblick schloß er die Augen und zwang sich, den Stumpf seiner Linken zu umfassen. Der Schmerz ließ ihn beinahe ohnmächtig werden, aber er preßte den blutigen Klumpen gegen das grobe Tuch seines Gewandes und schlang die losen
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