34° Ost
bewundert General Tate, aber was sein muß, muß sein.«
»Ja«, sagte Seidel müde. »Die Doktrin von der friedlichen Intervention darf nicht in Frage gestellt werden – auch wenn das Tate den Kopf kostet. Das klingt auf eine grausame Art plausibel.«
»Niemand weiß besser als Sie, dass Politik eine schmutzige Sache ist. Parteipolitisch muß der Präsident auf zwei Pferden gleichzeitig reiten, und eines davon gehört Talcott Bailey und seinen Anhängern. Wir können uns keine weitere Zersplitterung der Partei leisten. In drei Jahren, nach viel mühevoller Kleinarbeit, wird unser Flügel stark genug sein, um die Wahl zu gewinnen, selbst wenn die Isolationisten auch weiterhin den Kopf in den Sand stecken.«
»Ich hatte gehofft«, sagte Seidel, »dass die Entscheidung über Sinai nicht heute schon von der Innenpolitik beeinflusst würde. Das war naiv von mir. Ich bin eben schon zu lange von daheim weg.«
»Ja, Richter. Sie waren naiv. Bisher hat das Volk Talcott Baileys Isolationismus noch bei jeder Wahl abgelehnt. Aber die Partei … Sie wissen, wie wichtig es ist, dass eine Partei nach außen hin geschlossen auftritt. Sie erinnern sich doch, wie es zu Beginn der siebziger Jahre aussah? Der Präsident wird eine Zersplitterung nicht zulassen. Aber wir brauchen Zeit, um unsere Position zu konsolidieren. Wir müssen absolut sicher sein, dass wir bei den nächsten Wahlen mit der Unterstützung der Tauben rechnen können. Wir müssen auch sicher sein, dass wir einen zugkräftigen Kandidaten haben.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Präsident seine Anziehungskraft auf die Wähler so gering einschätzt«, sagte Seidel, und wieder klang seine Stimme scharf.
Stumm musterte Reisman Seidels markantes Gesicht. »Was ich Ihnen jetzt sage, ist streng vertraulich, Richter Seidel«, sagte er. »Damit Sie sehen, was diese … diese bedauerliche Entwicklung herbeigeführt hat. Lassen Sie mich meine Mitteilung mit dem Hinweis einleiten: Wenn es erforderlich ist, werde ich es ableugnen, dass dieses Gespräch je stattgefunden hat. Selbst wenn ich mir damit einen Prozess wegen Meineides einhandeln würde. Ist das klar?«
Seidel nickte. Eine Falte erschien auf seiner Stirn.
»Sie denken jetzt wohl, der Brief in Ihrer Tasche sei so eine Art Lockmittel. Habe ich recht?«
»So etwas Ähnliches kam mir in den Sinn.«
Reisman schüttelte den Kopf. »Der Präsident hat es nicht nötig, sich Ihre Loyalität zu erkaufen. Das weiß er, und Sie wissen es auch. In mancher Beziehung ist er altmodisch. Der Präsident, meint er, sollte ein Präsident für das ganze Volk sein. Bis jetzt ist er ein guter Präsident gewesen. Stimmen Sie mit mir überein?«
»Ich weiß, wie gut er ist«, antwortete der Colonel.
»Gewiß. Und denken Sie bitte über das, was ich Ihnen sagen werde, sehr sorgfältig nach. Er ist der festen Überzeugung, dass die Amerikaner mithelfen sollen, den Frieden auf Sinai zu bewahren. Er glaubt, dass das Volk seine Überzeugung teilt. Glauben Sie das auch?«
»Ja.«
»Ohne jede Einschränkung?«
»Ganz gleich, wie Baileys Anhängerschaft denkt: die Nation will nie wieder Isolationismus. Diese Ansicht teile ich.«
»Glauben Sie, Talcott Bailey weiß, wie die Wähler denken?«
»Das weiß er. Er ist ein intelligenter Mann.«
»Aber?« Reisman wartete.
Sollte dies eine rhetorische Frage sein? Wie es Seidel schien, war sie so gemeint.
»Der Vizepräsident gehört zu jener Gruppe von Menschen, die alles besser wissen. Besser als das Volk. Nennen Sie diese Leute elitär, wenn Sie ihnen ein Schildchen umhängen wollen. Hier sind keine Überraschungen zu erwarten, Reisman.«
»Also schön. Dann habe ich hier eine Überraschung für Sie. Der Präsident wird nicht mehr kandidieren.«
Seidel erstarrte.
»Er kann nicht kandidieren«, fuhr Reisman fort. »Dafür gibt es gute Gründe. Zunächst einmal sein Gesundheitszustand. Der Präsident leidet an der Parkinsonschen Krankheit. Schüttellähmung. Er hält es geheim, aber die Diagnose wurde mehrfach bestätigt. Es bleibt ihm einfach nicht genug Zeit, um alles zu tun, was er für unser Land tun wollte.«
»Mein Gott«, murmelte Seidel betroffen. »Ich hatte keine Ahnung.«
»Er kann bis zum Ende der Regierungsperiode im Amt bleiben, aber er kann nicht wieder kandidieren.«
Seidel sog an seiner Pfeife und merkte, dass sie kalt war. Zerstreut und mechanisch klopfte er den Tabakrest in einen Aschenbecher. »Es ist nicht ganz leicht, eine solche Neuigkeit zu
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