34° Ost
verändern? Töten um des Tötens willen, gut und schön. Wie hatte Bakunin gesagt? »Die Leidenschaft der Zerstörung ist auch eine schöpferische Leidenschaft.« Die Ermordung des Amerikaners und seiner Begleiter würde für Tirana und Peking große Vorteile bringen, da damit ein Keil in die halbherzige sowjetisch-amerikanische Entspannungspolitik getrieben wurde. Doch würde diese Ermordung auch Enver Leč Vorteile bringen, der gerne weiterleben wollte, um seinen Kampf fortzusetzen? Sein Name würde unsterblich sein als der eines großen Revolutionärs (falls man je erfuhr, welche Rolle er bei dem Überfall gespielt hatte, was zweifelhaft war). Aber würde er den Überfall auch überleben? Darauf gab es eine klare Antwort: Er würde ihn nicht überleben.
Leč fürchtete den Tod weniger als die meisten Menschen, aber er war nicht bereit zu sterben, wenn sich eine Alternative anbot. Und es gab eine Alternative. In den Stunden, die seit dem Massaker an den Schafhirten in Feiran vergangen waren, hatte er eine weitere Möglichkeit erwogen, eine, die das taktische Problem komplizieren, seine strategische Position jedoch unvergleichlich verbessern würde.
Angenommen, man könnte Talcott Bailey, statt ihn zu töten, gefangen nehmen? Wie sähe die Sache dann aus?
Es waren zweifellos gewaltige Risiken – weitaus größere, als wenn man Bailey und seine Begleiter einfach umbrachte. Die Arabische Front würde natürlich die Verantwortung zum größten Teil übernehmen. Aber es wäre unrealistisch, anzunehmen, die CIA, das KGB, der Mosa'ad und alle anderen Geheimdienste würden nicht sehr bald herausbekommen, welche Rolle das kleine Albanien bei diesem Verbrechen gespielt hatte. Und von Tirana aus die Spur nach Peking zu verfolgen war kinderleicht.
Einen Augenblick lang durchzuckte ihn wilde Erregung. Ein Krieg wäre durchaus im Bereich der Möglichkeiten. Er malte sich das Entsetzen der Welt aus, wenn die ersten thermonuklearen Raketen aus ihren Schächten geschossen kamen. Der Mann, der dieses Chaos schuf, würde an Größe selbst Bakunin übertreffen.
Die Vorstellung weltweiter Zerstörung war ein Gedanke von fast erotischem Reiz, doch dem Hirn des Albaners entsprang eine noch berauschendere Idee. Mit dem amerikanischen Vizepräsidenten als Geisel konnte er praktisch allen seine Bedingungen diktieren. Den Amerikanern, den Russen … Selbst seine ideologischen Väter, die Chinesen, würden so gut wie hilflos dastehen.
Er blickte nach Norden, wo Leila Jamil die Reiterschar an einem abfallenden Hügelkamm entlang zum südlichsten Arm des Wadi el Arisch führte, an dessen Hängen sich die Zentrale Zone ausbreitete. Leila und ihre Männer – sie, die für den Kampf lebten, aber auch alle jene im Nahen Osten und in aller Welt, die diesen Kampf guthießen und unterstützten –, sie würden sich auf die Chance stürzen, einen Mann wie Talcott Bailey als Geisel in die Hand zu bekommen. Mit dem Vizepräsidenten in ihrer Gewalt würde es möglich sein, die Gefängnisse aufzubrechen – in Israel und überall dort, wo Terroristen eingekerkert waren. Ja sie würden sogar imstande sein, Sowjets und Amerikaner aus Sinai zu vertreiben. Leč bezweifelte das zwar, aber einen Versuch war es immerhin wert. Auf jeden Fall war es besser, als von wütenden Amerikanern und erschreckten Russen wie wilde Tiere gejagt zu werden und hier in diesen Bergen zu verrecken.
Enver Leč trieb sein Kamel zu schwankendem Trott, um an die Spitze der Kolonne zu gelangen. Er war ganz sicher, dass Leila Jamil seinem neuen Plan zustimmen würde.
Eine Stunde war seit der Abfahrt von Es Schu'uts vergangen. Der Konvoi rollte mit einer gleich bleibenden Geschwindigkeit von fünfundsiebzig Stundenkilometern auf der Schotterstraße über das Plateau von Al Qusamyah. Die von Pionieren des amerikanischen Kontingents für den Truppentransport zwischen Thamad und der Nordküste ausgebesserte und wiederhergestellte Straße war heute leer. Major Paris hatte dafür gesorgt. Er hatte auch veranlasst, dass kleine Trupps entlang der Straße bis zur Grenze des amerikanischen Sektors in Abständen von zehn Kilometern postiert wurden, den Soldaten jedoch Weisung gegeben, sich nach Möglichkeit im Hintergrund zu halten. Aber der Konvoi sollte so lange unter Aufsicht stehen, bis er in die entmilitarisierte Zone überwechselte.
Dort tat der Major sein Bestes, um den UN-Kommandeur, einen wohlbeleibten schwedischen General, davon zu überzeugen, dass er gut daran täte,
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