365 Geile Nacht Geschichten Band 2 Juli
vegetarian“, nuschelte ich, ohne zu wissen, ob man das so sagte. Nicht dass ich am Ende noch behauptete, ich wäre Gemüse. Mister Glotzmichan schnaubte und lief mit dem Teller weg. Na Toll. Der Tag fing schon Mal gut an.
Auf die feige Art einer Sightseeingtour ließ ich mich einfach von einer Touristenattraktion zur nächsten treiben. Stand irgendwo eine Menge Leute mit Rucksäcken und Kappen herum, stellte ich mich dazu und machte nach, was sie taten. Am Ende des Tages war ich zweihundert Pfund ärmer und hatte alles durch, was ich in der Schule von unserem Englisch-Buch „Ann and Pat“ gelernt hatte. Die nächsten zwei Tage wollte ich etwas kreativer sein.
Abends lag ich wieder vor der Glotze und schaute irgendwelche Gameshows an. Vielleicht war es Einbildung, aber ich glaubte, schon wesentlich mehr zu verstehen, als gestern und hatte das Gefühl, das Land, die Stadt, London greife nach meiner Seele. Ein schönes Gefühl. Immer wieder schaute ich zum Fenster, aber heute gab es keinen orangen Schimmer. Zwar spähte ich zu später Stunde trotzdem nochmal genauer raus, aber es war zu finster, etwas zu erkennen. Diese Nacht verbrachte ich in den Tiefen des Riesenbettes und erwachte am Morgen ebenfalls mit steifen Gliedern und verspannten Muskeln. Die Matratze war einfach zu weich.
Als ich die Pension verließ, beschloss ich, kühn, die Wirtin zu fragen, ob sie Insider-Tipps für mich hätte … was ich mir so jenseits der Touristenattraktionen unbedingt Mal ansehen müsste. Offenbar konnte ich mein Anliegen nicht richtig transportieren, zumindest glotzte sie mich fast so intelligent an wie ihr Sohn (nun war ich mir ziemlich sicher, dass sie verwandt waren) und verschwand durch den Türbogen. Zwar hatte sie etwas gesagt, aber ich wusste nicht, ob es 'warten Sie' oder 'nein, gehen sie weg' bedeutete, also blieb ich sicherheitshalber unschlüssig stehen.
Da kam Mister Glotzmichan und schlenderte zum Pult des Empfangs, wobei er seinem Namen alle Ehre machte. Tagsüber würde ich mal im Diktionary nachsehen, wie man einen Einheimischen dazu ermuntert, einen nicht anzuglotzen. Der Mann tastete mit seinen groben Händen durch diverse Broschüren und da er mich dabei nicht anstarrte, musterte ich ihn ein bisschen. Also älter als dreißig war er vermutlich nicht, dazu hatte er eine zu glatte Haut und die Fältchen waren zu fein. Wenn man Augen, Nase, Mund, Kinn, Ohren, Stirn, Haaransatz und Hals jeweils für sich betrachtete, waren das ganz hübsche Elemente – nur in Komposition harmonierte das nicht. Er wirkte unattraktiv – was einfach nicht fair gegenüber den einzelnen Körperteilen war. Ob das seinen restlichen Körper auch betraf? Ob seine Gliedmaße jedes für sich schön, der Leib aber im Gesamten unansehnlich war?
Er ertappte mich dabei, wie ich mit meinem Blick seinen Hintern abtastete und starrte mich – wie immer – ausdruckslos an. Nun, nicht direkt ausdruckslos, sondern eben so, als wäre ich der Mann, der vom Himmel fiel oder so. Ja, er glotzte mich an, als hätte ich verschiedenfarbige Augen – habe ich aber nicht – ich habe nur ein etwas auffälliges Muttermal neben meinem linken Auge. Vermutlich war ich Mister Glotzmichan ähnlicher, als ich wahrhaben wollte. Auch meine einzelnen Körperteile waren für sich genommen schön – aber mit meinem Spiegelbild konnte ich mich einfach nicht anfreunden, dabei hatte ich dafür siebenundzwanzig Jahre Zeit gehabt.
Mit wenigen bestimmten Griffen blätterte Mister Glotzmichan durch die Broschüren und zeigte mit den groben Fingern auf manche der Seiten. Ob er stumm war? Oder dachte er etwa, bei mir wären ohnedies Hopfen und Malz verloren und er bemühte sich erst gar nicht, mit mir zu sprechen? Wie immer bedankte ich mich mit einem unverständlichen Nuscheln und einem Nicken und stürmte aus der Pension.
An diesem Tag verlief ich mich rettungslos und irrte stundenlang durch Gassen und Straßen diverser Stadtteile. Zunächst ärgerte mich das, dann aber genoss ich es, einen Teil von London zu erschließen, der den meisten Touristen wohl verborgen blieb. Zudem konnte ich fern der Massen besser nachdenken – beziehungsweise wurde ich nachgedacht – von Mister Glotzmichan. Der Mann beschäftigte mich. Ich konnte nicht sagen warum – es war nichts Bestimmtes, keine konkreten Überlegungen, er wanderte einfach durch meine Eindrücke wie ein Geist – berührte alle Gedanken und hinterließ Fingerabdrücke.
Erst als es dämmerte fand ich eine
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