365 Geile Nacht Geschichten Band 2 Juli
ich meinte, er bliebe einen Moment länger an meinem Tisch stehen, sähe mir fester in die Augen, wählte die Route zu den Gästen so, dass er an mir vorbeiging, und täte das näher als nötig. Es war mein letzter Tag in London und alles, was ich wollte, lief stumm zwischen den Tischen herum. Nein, heute wolle ich nicht die Stadt, heute wollte ich diesen Mann. Wen interessierten die Gebäude und Straßen, Wachsfiguren und Königinnen, wenn es hier jemanden gab, dem man nah sein konnte? Er strahlte ein Talent für Nähe aus, eine Gabe für Zuneigung, eine Aura der Geborgenheit. Heimlich nannte ich ihn nun den Küsser. Er war mein Küsser.
Nach und nach verließen die Asiaten den Frühstücksraum und am Ende blieb ich ganz allein sitzen, sah dem Küsser und seiner Mutter zu, wie sie die Tische abräumten. Ich wollte sitzen bleiben, bis er mich persönlich fortjagte, bis er mit der Bitte, den Raum zu verlassen in meinen inneren Raum vordringen musste. Doch es war die Wirtin, die mir klar machte, dass die Frühstückszeit um war. Mit einem sehnsüchtigen Blick auf den Rücken des Küssers, ließ ich mich hinaus bugsieren. Und nun? Nichts würde mich auch nur einen Meter aus diesem Haus rausbringen. Auch wenn ich ihn nicht sehen konnte, so wollte ich ihm nahe sein – wenn auch getrennt durch Wände, also schlurfte ich in mein Zimmer, warf mich aufs Bett und suchte in Gedanken seine Nähe.
Ich musste eingenickt sein, denn ich schreckte hoch, als jemand am Türschloss herumpfriemelte. Da mein Schlüssel von innen steckte, konnte die Reinigungskraft wohl nicht herein. War eh besser so, ich wollte niemanden hier haben, in Ruhe weiterträumen. Am späten Nachmittag fasste ich den Mut und kletterte aus dem Fenster, machte ein paar Schritte und schaute mich um. Wo der Küsser wohl immer aus dem Haus und wieder hineinschlüpfte? Als wohnte ich hier und täte es täglich, schlenderte ich zu den Sofas. Auf dem Boden klebte Wachs in verschiedensten Farben, offenbar wurden dort oft Kerzen abgestellt. Obwohl die Polstermöbel schmutzig waren, ließ ich mich hineinplumpsen.
Das war wirklich ein schöner Platz zum Durchatmen. Man hatte eine nette Aussicht auf die Rückseiten der Häuser, die Gärten und Höfe. Ich musste dort ein oder zwei Stunden gesessen haben, hatte die Zeit ganz vergessen, da kam mein Küsser über das Dach hinweg zu mir. Mein Herz klopfte, ich musste grinsen, konnte nicht anders und strahlte ihn an. Er lächelte scheu, lief ein paar Mal vor mir auf und ab, ehe er sich entschied, sich nicht auf eines der anderen Sofas zu setzen, sondern direkt neben mich. Dabei rutschte er ans andere Ende, als wäre ich giftig. Waren die anderen Sitzgelegenheiten etwa unbrauchbar? Warum wählte er die Nähe und suchte dort Distanz?
Einige Minuten saßen wir so da und ich genoss einfach nur seine Anwesenheit. Was sollte ich schon sagen? Mein Englisch war miserabel und er vermutlich taubstumm, also schwieg ich, so wie er immer schwieg. Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich morgen Vormittag abreisen würde und ihn dann nie wiedersehe. Der Gedanke machte mich todtraurig, mein Herz wurde schwer und ich seufzte. Außerdem wurde es langsam kühl und mich begann zu frösteln. Was hatte es noch für einen Sinn, hier herumzusitzen und zu hoffen? In zwölf Stunden fuhr ich in der Underground nach Heathrow zum Flughafen und in vierundzwanzig Stunden war ich wieder in meiner Wohnung und London eine ferne Stadt, der Küsser nichts weiter, als ein Schemen in der Erinnerung.
Mit einem traurigen Ächzen erhob ich mich, mied, ihn anzusehen und trabte zum Haus zurück. Es dauerte ein bisschen, bis ich das richtige Fenster fand und als ich davor stand stellte ich fest, dass es wohl leichter war herauszuklettern, als wieder hinein. Mit konzentriertem Blick tastete ich die Gegebenheiten ab und plante, wie ich wieder ins Zimmer kommen konnte ohne eine Scheibe einzutreten. Entschlossen ergriff ich den Rahmen und als ich mich hochziehen wollte, spürte ich einen Druck gegen meine Sohlen. Jemand hob mich hoch und mit einem kleinen Sprung war ich drin.
Natürlich war er es, und er stand da draußen vor meinem Fenster wie ein Verlorener – als hätte er mich bereits verloren, als hätte ich ihn bereits verloren. Ob ich ihn küssen sollte? So wie gestern? Er schien sich dieselbe Frage zu stellen und eine ganze Weile blickten wir uns unschlüssig an. Dann nahm er Anlauf und mit einer eleganten Bewegung hievte er sich durchs Fenster und stand
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