38 - Wiedergeborenes Scorpio
ausgebildet; sie müssen in dem Körper eines Neugeborenen die Persönlichkeit des gerade verstorbenen Paol-ur-bliem aufspüren.«
»Das ist wohl alles sehr kompliziert?«
»Sehr. Und doch erscheint das alles irgendwie ehrfurchtgebietend. Man glaubt wirklich zu spüren, daß San Tuong übersinnliche Kräfte hat, mit denen er die Persönlichkeit des Toten im Körper eines Neugeborenen findet. Es ist unheimlich.«
Sie sprach gefühlvoll-nachdrücklich, ohne mich anzuschauen, und verschränkte die Finger wie ein Fischernetz in ihrem Schoß. Ich würde sie nicht fragen, ob sie selbst davon überzeugt war.
»Und die Bewahrer? Ein Rast wie Hargon?«
»Bewahrer sind Wächter. Sie leben bei der Familie und beobachten alles, was sich ereignet. Wenn der Paol-ur-bliem stirbt und neu geboren wird, holt der Bewahrer aus dem Geist des Kindes die Erinnerungen an frühere Leben heraus.«
»Eher ist wohl anzunehmen«, sagte ich, »daß er den Kopf des Kindes mit allerlei neuen Sachen vollstopft.«
Mevancy nickte bleich. »Auch ich mußte an diese Interpretation der Funktion der Bewahrer denken. Ich weiß eben nicht, wie es wirklich ist. Alle sind so ... so angespannt-eindeutig, wenn es um dieses Thema geht.«
»Das Kind nebenan ist also wirklich Leotes. Und du willst darauf warten, daß es erwachsen wird?«
»Ich ...« Sie stockte und schluckte trocken. »Ich glaube nicht, daß ich mich dazu bindend verpflichtet habe. Leotes und ich ...« Wieder sprach sie nicht weiter. Dann stand sie auf und sagte: »Wenn du dich noch länger hier herumtreibst ...«
»Ja, ja. Hör mal, Hühnchen, ich habe einen Plan. Ich werde ...«
»Kohlkopf! Ich plane, das weißt du genau!«
»Ich werde mich verkleiden und in Mishuros Leibwache einschleichen. Wenn ich mich anmelden will, sorg dafür, daß der San mich nimmt.«
Sie war bleich bis auf die Lippen. »Die Everoinye ...«, murmelte sie mit erstickter Stimme.
»Du hast wirklich recht, Hühnchen. Ich will mich hier nicht länger aufhalten.« Ich ging zum Fenster, wo mir ein weiterer wichtiger Grund für meinen Besuch einfiel. »Ich stehe in Verhandlungen, mir einen Bogen zu kaufen. Ich brauche noch etwas Gold.«
Sie legte den Kopf so weit in den Nacken, daß ich schon fürchtete, ihr Adamsapfel werde herausspringen. »Warum bezahlst du das nicht von dem Söldnerlohn, den San Tuong dir zahlen wird?«
Ich spürte, wie sich meine Lippen zu einem Lächeln verzogen. Sie war wirklich eine hochnäsige Dame! »Das bringt uns auf die klassische Frage um das Huhn und das Ei.«
»Ja, das sehe ich.« Ihr Gesicht nahm wieder Farbe an, und ihr Atem beruhigte sich. Sie hob eine Hand an die Brust. »Ich werde dir wohl das Gold geben müssen.«
Ich dankte ihr in vollem Ernst, während ich die Mings in meinen Beutel schaufelte. Zur Erklärung fügte ich noch hinzu: »Es nützt uns bestimmt mehr, wenn ich als Bogenschütze diene und nicht als Speerträger.«
»Ja. Nun solltest du aber ...«
»Ich verschwinde ja schon. Ach, noch etwas, Hühnchen – solltest du dich umbringen lassen, wenn ich nicht in der Nähe bin, werde ich wütend sein, sehr wütend. Dernun?«
Mit dieser ziemlich unhöflichen Frage schob ich mich durch das Fenster und verschwand.
Das geheime Ritual, das bestätigte, daß ein Mensch wirklich tot und auf dem Weg in den Todesdschungel von Sichaz war, hieß Kaopan. Ich war so zynisch anzunehmen, daß die eintausendundeine Personen, die dazu verurteilt waren, hundert Leben durchzumachen, es ausnahmslos vorzogen, diese Strafe auf sich zu nehmen, statt in den Todesdschungel abgeschoben zu werden, wo sie mit den gespenstischen Slaptras ein Tänzchen machen mußten. Wie auch immer – war dies nicht eine gute Methode, zu Reichtum zu kommen? Hargon gebot über Leotes' Villa und Anwesen, über seine Gefolgsleute und Sklaven und beherrschte sein Vermögen. Dies war nun schon seit Generationen so. Die Macht würde sich zentralisieren. Die Königin war vermutlich eine Paol-ur-bliem – nicht nur vermutlich, sondern sogar sehr wahrscheinlich.
Bestimmt war sie auch eine echte Lohische Königin des Schmerzes.
Während Twang und ich bei meinem nächsten Besuch in höflichem Ton über dieses und jenes, vor allem aber über Bögen sprachen, bediente uns eine andere Tochter.
»Ich sage nichts gegen die Armbrust«, meinte Twang, »wie es so viele andere tun. Sie kann ganz nützlich sein.«
»Ich hatte angenommen, daß die Königin einige Armbrustschützen in ihrem Gefolge beschäftigt«, sagte
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