4 Meister-Psychos
Kein Beruf, keine Adresse. Aus den Eintragungen und
Verordnungen ging die Krankheit nicht hervor, sie waren undurchsichtig,
bestanden fast nur aus Zahlen. Der letzte Eintrag war vom 10.3. Warrender war
also am 8. Mai nicht erschienen oder — oder er war doch gekommen, und Randolph
hatte keine Gelegenheit mehr gefunden, ihn einzutragen. Der Kommissar schob die
Unterlippe vor. Acht bis acht Uhr zehn. Hm. Keine sehr lange Zeit. Immerhin. Ob
Warrender noch einmal zur Behandlung kommen würde?
Er heftete den Brief an die
Karteikarte und sah auf die Uhr. Halb neun. Zeit, daß er fortkam. Er überflog
die restlichen Papiere und sah dann die Fächer des mächtigen Schreibtisches
durch. Ärztemuster, Schreibpapier, Umschläge, ein Satz ungebrauchter
Chirurgischer Instrumente, nichts Wesentliches, alles belangloses Zeug. War ja
auch schon durchsucht worden, was wollte er da noch finden. Er sah sich um,
wollte sich vergewissern, ob er nichts übersehen hatte. Da fiel ihm etwas ein.
Er hob das Telefon ab, drückte den weißen Knopf vor dem Schild »Nebenanschluß«
und wartete.
»Randolph«, klang es aus der
Muschel. »Was ist denn...«
»Guten Abend, gnädige Frau.
Hier Nogees. Entschuldigen Sie, aber ich habe mich hier unten noch ein bißchen
umgesehen.«
»Ach so«, sagte sie
erleichtert. »Ich wunderte mich schon, wie Sie in die Leitung kommen. Ist alles
in Ordnung?«
»Ich habe eine Frage. Kennen
Sie einen Privatpatienten namens Warrender? Stefan Warrender?«
»Ich kann mich nicht
entsinnen«, erwiderte sie nach kurzer Pause, »nein — ich habe den Namen noch
nicht gehört. Hat er etwas mit dem — mit dem Tod meines Mannes zu tun?«
»Ich weiß es nicht«, sagte der
Kommissar wahrheitsgemäß. »Aber ich hoffe es herauszufinden. Sie könnten mir
dabei helfen.«
»Sehr gern. Und wie?«
»Sollte sich dieser Warrender
jemals schriftlich oder telefonisch bei Ihnen melden, geben Sie mir in der
nächsten Minute Bescheid. Verstehen Sie — in der nächsten Minute!«
»Selbstverständlich — aber ich
verstehe nicht — meinen Sie denn, daß er das tut, wenn er unter Verdacht
steht?«
»Wenn er ein gutes Gewissen
hat, meldet er sich sicher. Wenn nicht, zeigt das, daß er keins hat. Also, Sie
haben verstanden?«
»Ja.«
»Schön. Im übrigen steht nichts
mehr im Wege, die Praxis wieder zu eröffnen, wenn Sie das vorhaben sollten. Wir
sind mit unseren Ermittlungen hier fertig.«
»Danke, es ist sehr freundlich
von Ihnen — aber ich muß erst noch ein bißchen Pause machen — ich kann jetzt
noch nicht.«
»Ich verstehe. Wenn Sie
irgendeinen Rat brauchen — ich bin stets für Sie zu sprechen. Ja — ach, was ich
Sie noch fragen wollte...«
»Bitte?«
»Warum haben Sie vorgestern auf
dem Präsidium nicht zugegeben, daß Sie mit Dr. Marohn nach dem Kriege wieder
eine Verbindung aufgenommen haben?«
»Ich? Verbindung? Wie kommen
Sie...«
»Aber natürlich«, sagte Nogees
sanft, als spräche er mit einem unartigen Kind. »Sie wußten, wo er wohnte, und
haben ihm mehrfach geschrieben — nach Jena, in die Ostzone.«
Er hörte ihr schnelles Atmen am
Telefon.
»Stimmt das?«
»Ja«, sagte sie mit zitternder
Stimme, »ich wollte ihn nicht hineinziehen — nicht in Verdacht bringen — verstehen
Sie — mein Mann konnte ihn doch nicht leiden...«
»Sehr großherzig von Ihnen«,
erwiderte Nogees trocken. »Es wird ihm nur nicht viel helfen.«
»Wie meinen Sie dsa?« Ihre
Stimme klang angstvoll und erregt.
Bist du auch noch in ihn
verliebt? dachte der Kommissar amüsiert. Julia wird dir was erzählen!
»Weil wir ihn vorgestern abend
verhaftet haben. Unter dem Verdacht des Mordes an Ihrem Gatten. Am Abend des
Mordes hatte er hier in der Wohnung eine Unterredung mit ihm — Ihretwegen.«
Sie stieß einen leisen Schrei
aus. »Peter — aber das kann doch nicht sein — wie ist er dann hierhergekommen —
das hätte ich doch wissen müssen.« Sie verstummte. Nogees lauschte gespannt. Er
hätte sonst was drum gegeben, jetzt ihr Gesicht sehen zu können. »Herr Kommissar«,
sagte sie nach einer Weile leise, »darf ich ihn sprechen?«
»Kommen Sie morgen um elf. Geht
das?«
»Ja, natürlich, ja...«
»Gut, Guten Abend, gnädige
Frau.«
»Guten Abend.«
Julia lief planlos kreuz und
quer durch die Innenstadt, den fröhlichen Herrn Mink an der Leine, der ohne
Unterschied fremde Hunde, Fußgänger und Autos anbellte. Sie war mißmutig und
lustlos, wußte nicht, was sie tun sollte, und verspürte keinen Antrieb,
Weitere Kostenlose Bücher