4 Meister-Psychos
»Wo steht Ihre Wiege jetzt?«
»Ich weiß es wirklich nicht.
Aber ich kann Ihnen noch weitere Einzelheiten...«
Julia fuhr an.
»Nein, danke. Mich würde nur
noch interessieren, ob dieses Ding auf Ihrem Schoß eine Kaffeemaschine oder die
neueste Atombombe darstellt.«
»Dieses Ding, mein Fräulein, ist
außer Herrn Mink mein letzter irdischer Besitz. Es soll uns beide vor dem
Hungertode retten.«
»Interessant. Und was ist es?«
»Eine Röntgenröhre. Eine von
der besseren Sorte mit drehbarer Anode. Ich hoffe in der nächsten größeren
Stadt dieses lieblichen Landes einen Dummen zu finden, der sie mir abkauft.«
»Aha. Und was sagt der Besitzer
dazu?«
»Er ist betrübt. Er wird
inzwischen festgestellt haben, daß ohne die Röhre die Aufnahmen so flau werden.
Es schmerzte mich tief, als ich sie ausbaute. Ich hätte gern noch mehr
mitgenommen, aber die Zeit war zu knapp.«
»Und wem gehört die Röhre?«
»Sie werden es nicht glauben.
Bis vorgestern mir. Jetzt würde sie allen gehören, der ganzen fortschrittlichen
Gemeinschaft, dem Staat. Wie der Rest meiner Einrichtung.«
Julia sah ihn scharf an. »Sie
kommen aus der Ostzone?«
Er nickte. »Sie sehen vor sich
ein Opfer des Sozialismus. Man wollte aus meinem im Schweiße meiner Füße
erbauten Unternehmen eine Poliklinik machen. Ich hielt nichts davon, und Herr
Mink war seiner braunen Farbe wegen ohnehin verdächtig. So entschlossen wir
uns, das Land unserer Väter zu verlassen, und schlichen uns bei Nacht und Nebel
über die grüne Grenze. Mit Herrn Mink hatte ich einigen Ärger. Er wollte immer
die Grenzposten freundlich begrüßen. Sie sind der erste Lichtblick auf unserem
Leidensweg.«
Julia streichelte den Hund,
dessen Ohren im Fahrtwind flatterten. »Wenn ich nun eine sowjetische Agentin
wäre?«
»Würde ich Ihren Chef beneiden
und Ihnen folgen, wohin Sie wollen.« Er strahlte sie an, und sie lächelte. »Bis
Nürnberg sind es aber nur noch zwei Stunden.«
»Zwei Stunden mit Ihnen sind
wie zwanzig mit Ava Gardner«, sagte er.
Sie schwieg, und er warf ihr
verstohlene Blicke zu. Ein herrliches Mädchen. Und es fiel ihr sogar etwas ein.
Aber für ihn war das wohl nichts. Reich, verwöhnt, umschwärmt, und fuhr zu
ihrem Vergnügen in der Gegend herum. Und außerdem — aber er wollte nicht daran
denken, jetzt noch nicht.
»Woran denken Sie?«
»Daran, daß mein neuer Wagen
noch im Laden steht. Wie kommen Sie zu diesem Exemplar?«
»Ich hatte nicht genug Geld für
die Straßenbahn.«
»Hm, und Monatskarte?«
»Da hätte ich mein Geburtsdatum
angeben müssen, und das wollte ich vermeiden.«
Er sah sie bewundernd und
erstaunt an. »Wo haben Sie bloß diesen Sinn für Unsinn her? Man könnte meinen,
wir hätten den gleichen Großvater gehabt.«
»Um Gottes willen! Meine arme
Großmutter. Jetzt weiß ich, warum sie so früh gestorben ist.«
»Spotten Sie nicht«, versetzte
er mit ernstem Gesicht. »Mein Großvater starb an den Folgen eines Schlages mit
einer Bratpfanne. Wir bewahren diese Pfanne in der guten Stube...«
»Hören Sie auf«, rief sie. »Ich
fahre an den nächsten Baum, wenn Sie nicht aufhören.«
Sie lachten beide herzhaft. Die
Sonne brannte voller Glut.
»Schade, daß Nürnberg so bald
kommt«, sagte er. »Sie entschwinden aus unserem Dasein und vergessen uns.«
»Und Sie mich.«
»Niemals. Herr Mink schon gar
nicht. Und er versteht etwas von Frauen. Nicht wahr, Mink? Ist das ein
Frauchen?«
Der Hund wandte den Kopf,
schnupperte vorsichtig an Julias linkem Handschuh, sah sie einen Augenblick an
und legte die Schnauze auf den Fensterrahmen.
»Stumme Huldigung«, sagte
Marohn.
»Was tun Sie in Nürnberg?«
fragte Julia in sachlichem Ton.
»Ich durchquere es und
marschiere weiter nach München.«
»Und wo essen Sie?«
»In München«, erwiderte er.
»Für den Rest meines Ostgeldes werde ich hier nicht viel kriegen. Es sei denn,
es gibt in Nürnberg eine Bahnhofsmission, die den Kessel leeren muß.«
»Sind Sie zu stolz, sich von
mir zum Mittagessen einladen zu lassen?« fragte Julia leichthin, aber es war
ihr doch nicht ganz wohl dabei.
Er rutschte in seinem Sitz
tiefer und stemmte die Beine gegen das Armaturenbrett. »Früher sagte der
Gentleman in diesen Fällen mit zornbebender Stimme: ›Ha, Elende, denkst du, ich
lasse mich von einer Frau aushalten?« Aber um stolz zu sein, habe ich zu wenig
Geld, und um mit Ihnen zu streiten, bin ich zu kaputt. Und außerdem«, setzte er
leise hinzu, »habe ich wirklich Hunger.
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