41 Rue Loubert: Kriminalroman (German Edition)
dass die Abwechslung Luc durchaus gefallen könnte. Er wird viel Neues kennen lernen und kann seinen Erfahrungsschatz erweitern. Jede von uns ist eine gefestigte Persönlichkeit und es wird ihm gut tun, von uns allen umsorgt und gehätschelt zu werden. Es wird höchste Zeit, dass er unter neue Menschen kommt, die ihn nicht therapieren, sondern verwöhnen wollen. Außerdem betritt er stets dasselbe Haus und muss sich nicht an einen anderen Ort gewöhnen. Wir leben ja alle unter einem Dach, wie eine große Familie!“
Sie lächelte aufmunternd und strich Hendrik liebevoll über die eingefallene Wange. Er griff nach ihrer Hand und beugte sich in altmodischer Manier zu einem Handkuss darüber.
„Was hätte ich nur all die Jahre ohne dich gemacht, Louise?“, flüsterte er.
Sie nahm sein zerfurchtes Gesicht zwischen ihre beiden Hände und küsste ihn behutsam auf die Stirn.
„Was hätte ich nur all die Jahre ohne dich gemacht, Hendrik?“, antwortete sie ernst.
Montag
Der Polizeipräsident
Prefe de la police Pricard betrat seit neunzehn Jahren acht Monaten und fünf Tagen pünktlichst um sieben Uhr fünfzehn den Haupteingang der Pariser Polizeipräfektur, durchschritt Hallen und Gänge mit blank polierten Schuhen und stolz geschwellter Brust, grüßte militärisch knapp die wenigen Untergebenen, die es nicht geschafft hatten, ihm rechtzeitig aus dem Weg zu gehen, riss geräuschvoll die Tür zu seinem Vorraum auf, nahm von seiner attraktiven, im Fünf-Jahresrhythmus ausgewechselten Sekretärin eine Tasse feinsten, argentinischen Kaffees in Empfang, marschierte zackig weiter in sein feudales Büro, nahm auf seinem sündteuren Lederstuhl mit integrierter Massagefunktion Platz, überflog die Schlagzeilen der wichtigsten Tageszeitungen und versank anschließend in eine depressive Phase, weil er nicht wusste, was er von nun an mit seinem Tag anfangen sollte.
Umso entsetzter war er deshalb am Montagmorgen, als er mit gewohnter Forschheit die Tür zu seinem Büro öffnete und auf dem ungemütlichen Besucherstuhl (aus hartem Eichenholz) seinen fähigsten Ermittlungsleiter vorfand. Dass dieser statt ausgebeulter Hosen und zerknittertem Shirt einen Anzug samt geschmackloser Krawatte trug, rasiert und offensichtlich ausgeschlafen war, konnte nichts Gutes bedeuten. Auch roch er nicht im Mindesten nach Alkohol und spätestens jetzt war Pricard klar, dass Schwierigkeiten auf ihn zukamen. Komplizierte Schwierigkeiten, nach der ordentlichen Unterschriftenmappe zu urteilen, die Marcel fein säuberlich geöffnet über die Tageszeitungen gelegt hatte.
Pricard ersparte sich jeglichen Gruß, setzte sich und rührte langsam in seinem Kaffee, weniger um den nicht vorhandenen Zucker aufzulösen, sondern viel mehr, um sich zu fassen und etwas Zeit zu gewinnen. Dabei schielte er auf die zur Unterzeichnung vorbereiteten Formulare, las Louises Namen, nahm einen Schluck aus seiner Tasse und überlegte panisch, wie er dieses Unheil abwenden konnte.
Er prüfte wortlos jedes Blatt, die Buchstaben wollten sich nicht zu Worten zusammenfügen, immer wieder entglitten sie seinen Augen und verschwammen zu grauen Flecken.
Schließlich blickte er auf, musterte Marcel und sagte in scharfem Tonfall, aber mit leiser Stimme: „Sie liegen völlig falsch mit Ihrem Verdacht. Madame Prousseau ist über jeden Zweifel erhaben. Aber mir ist klar, dass Sie Ihre Arbeit tun müssen, wie Sie sie auch sonst tun. Ich genehmige die Hausdurchsuchung, aber keinesfalls werden DNA-Proben entnommen oder Telefonate zurückverfolgt. Wir können uns keinen Skandal leisten, in den Minister, Bankiers oder Mediziner verwickelt sind.“
„Oder Polizeipräfekten.“ Marcel konnte sich die zynische Randbemerkung einfach nicht verkneifen.
„Korrekt. Ich kann mir allerdings auch keinen Ermittlungsleiter leisten, der jeden zweiten Tag statt Mundwasser die Wodkaflasche erwischt.“
Touché.
Marcel nickte bedächtig. Er entnahm die entsprechenden Telefon- und DNA-Formulare der Mappe, zerriss sie und ließ die Papierfetzen provokant auf den Boden segeln.
Pricard setzte seine Brille auf, schraubte an einem eingetrockneten Füller und bemerkte beiläufig:
„Bereiten Sie eine Mannschaft vor und warten Sie auf meinen Einsatzbefehl. Ich informiere den Staatsanwalt und gebe Ihnen Bescheid, sobald alle Einwilligungen unterfertigt sind.“
Der Ermittlungsleiter verließ das Büro, zwar nicht auf allen Linien erfolgreich, aber doch einen großen Schritt weiter auf dem richtigen Weg.
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