434 Tage
Arbeitszimmer. Oder wie Julian sagen würde, das Alleszimmer. Ich öffne den Wäschebeutel und ziehe eines seiner getragenen T-Shirts heraus. Ich stecke mein Gesicht hinein und inhaliere bis mir schwindlig wird.
Er wird denken, ich habe ihn verlassen, um ihm den Spaß zu verderben. Dass ich ihm diese Erfahrung nicht gönne. Und vielleicht ist es so. Andererseits, vielleicht wird seine Erfahrung noch um einiges besser, wenn ihn nichts mehr hält. Wie hat Kai es so schön ausgedrückt? Sowas macht doch nur Spaß, wenn man keine Freundin hat. Ich denke, das stimmt. Und ich habe keine Lust darauf, ein Jahr meines Lebens mit Warten zu verbringen. Warten auf Anrufe, warten darauf, dass die Zeit vergeht, warten auf ihn. Darauf, dass er zurückkommt.
Er hätte nach London gehen können, oder nach Wien. Er hätte sich für Stuttgart entscheiden können. Aber es musste New York sein. Und ich frage mich, wie ihm nicht klar sein konnte, dass das etwas aussagt. Über ihn. Und über uns.
Es ist inzwischen fast vier Uhr morgens und kein Schlaf in Sicht. Zum ersten Mal wirkt dieses Bett riesig. Und irgendwie ist diese Wohnung viel weniger gemütlich. Zum ersten Mal finde ich sie heruntergekommen. Vielleicht sehe ich sie auch einfach endlich so, wie sie wirklich ist. Es sind vier alte Wände. Sonst nichts.
Ich lege mich wieder ins Bett und starre an die Decke. Anja, schlaf. Mach endlich das Licht aus und schlaf. Je länger du wach bist, desto länger tut es weh. Ich strecke mich und schalte das Licht aus, dann rolle ich mich auf die Seite und kneife die Augen zusammen. Die letzte Uhrzeit, an die ich mich erinnere, ist halb sechs.
Kapitel 29
Im Wohnzimmer brennt noch immer Licht. Als ich die Tür aufsperre, bemerke ich einen kleinen Karton. Ich bücke mich und hebe ihn auf. Auf einem Postaufkleber steht Anja Plöger, der Absender ist nicht ausgefüllt.
Ich schleiche ins Wohnzimmer. Tobias liegt mit weit ausgestreckten Armen auf der Couch. Für einen Moment wirkt es so, als wäre nie etwas gewesen. So als hätte es weder mein Geständnis, noch unser Telefonat je gegeben. Als wäre das alles nur ein böser Traum, aus dem ich gerade aufwache. Doch es war kein Traum.
Ich nehme den Karton und gehe ins Schlafzimmer. Ich weiß, von wem er ist. Bleibt nur die Frage, warum Julian diesen Karton vorbeigebracht hat. Einen Augenblick spiele ich mit dem Gedanken, ihn so wie er ist, in dem Müll zu werfen. Doch noch während ich das denke, weiß ich, dass ich das nie tun würde. Und das nicht nur wegen der Neugierde. Wenn man es genau nimmt, hat Julian nichts falsch gemacht. Alles, was zwischen uns war, habe ich angefangen. Ich gebe zu, dass ich es ihm gerne in die Schuhe schieben würde. Und eine ganze Weile habe ich das auch getan. Aber da ich heute meinen ehrlichen Tag habe, wäre es nicht in Ordnung, gleich wieder mit dem Lügen anzufangen.
Sicher, er hat gesagt, dass er mich verführen will. Aber ich bin zu seinem Zimmer gegangen. Und ich denke, ich wusste, was dort passieren wird, auch, wenn ich meinem Bewusstsein etwas anderes erzählt habe. Ich habe ihn geküsst. Und zwar jedes Mal, als es um etwas ging. Das alles war ich.
Ich öffne den Deckel des Kartons und entdecke einen Stapel Briefe. Die Umschläge sind unbeschriftet. Ich nehme den obersten und drehe ihn um. ‚Nummer 1’. Nun gut, Julian. Ich atme tief durch, dann reiße ich die Lasche vorsichtig auf.
Liebe Anja,
ich wusste, dass dieser Abend kommen würde. Oder sagen wir so. Ich wusste, dass dieser Augenblick kommen würde. Der Moment, in dem du dich entscheiden musst, weil es dich sonst von innen zerfrisst. Du bist eben doch ein guter Mensch, auch, wenn du das sicher anders siehst. Du hast dich für ihn entschieden. Für ihn und das Leben, das ihr aufgebaut habt. Ich verstehe das. Das ändert aber nichts daran, dass es weh tut. Ein Teil in mir dachte, dass ich es mit der Zeit geschafft habe, dein Vertrauen zurückzugewinnen. Vielleicht habe ich das. Ich weiß es ehrlich gesagt nicht.
Ich habe immer wieder überlegt, ob ich dir diese Briefe geben soll. Meistens habe ich doch noch irgendwelche fadenscheinigen Gründe gefunden, es nicht zu tun. Vermutlich, weil ich nichts besitze, das so privat ist. Nichts Persönlicheres.
Als ich heute auf dich gewartet habe, wusste ich bereits nach zehn Minuten, dass du nicht kommen würdest. Ich saß trotzdem über eine Stunde auf dem Bett und habe gehofft, mich zu täuschen. Aber das habe ich nicht. Mein Bauch hat es gewusst,
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