434 Tage
in einem Wattebausch, der dich beschützen soll. Ich verstehe das Verlangen danach, alles kontrollieren zu wollen, weil man denkt, dass es dann weniger weh tut, aber ich kann dir versichern, dass es das nicht tut. Zumindest hoffe ich das. Ich hoffe, dass es dir so schlecht geht wie mir.
Das Irritierende ist, wie sehr ich es vermisse, mit dir zu reden, egal wie wütend ich auf dich bin (und das bin ich. Ich bin wütender, als du es dir vorstellen kannst.). Ich vermisse deine Stimme und deine Augen. Und deinen Duft. Ich vermisse dein Lachen und unsere kleine Wohnung. Ich habe gehört, dass du kommende Woche ausziehst. Ich frage mich, wie du so etwas tun kannst. Und die Tatsache, dass du es kannst, zeigt mir, dass ich dich gar nicht wirklich kenne. Die Anja, die ich kenne, hätte es nicht fertiggebracht, die Wohnung zu kündigen und meine Sachen zu meinen Eltern zu bringen. Die Anja, die ich kenne, hätte mir aber auch gesagt, dass sie unglücklich ist. Und das ist die Anja, die ich liebe. Oder vielleicht war es eher die Anja, die ich liebe. Die, die mir diesen Brief geschrieben hat, die liebe ich nämlich nicht. Die ist mir fremd und macht sich das Leben viel zu leicht.
Ich habe sicher Fehler gemacht und ich kann sogar verstehen, dass ein Teil in dir sich gegen mich entschieden hat. Aber dass dieser Teil überwogen hat, das begreife ich nicht. Und genau das ist das Problem. Ich habe deinen Brief bestimmt zwölf Mal gelesen. Und auch, wenn die Worte in meinem Kopf angekommen sind, ich begreife sie nicht. Ich kann nicht glauben, dass es das zwischen uns war. Ich kann mir ein Leben ohne dich gar nicht mehr vorstellen. Und ich will es auch nicht. Ich liebe dich, Anja. Ich liebe nur dich. Zumindest den Teil in dir, den ich zu kennen glaubte.
Ich lege den Brief zur Seite. Das Eichhörnchen jagt durch meinen Brustkorb. Und es ist ein beruhigendes Gefühl, dass es nicht tot ist. Wenn ich das lese, scheint es nicht um mich zu gehen. Seine Erinnerung hat nichts mit der Situation zu tun, wie ich sie empfunden habe. Und zum ersten Mal muss ich erkennen, dass das, was ich getan habe, mindestens so schlimm war, wie das, was Julian getan hat. Ich wische über meine Wangen, dann nehme ich den winzigen Anhänger aus dem Umschlag und betrachte ihn.
Kontrolle. Ja, das war immer mein Thema. Dinge, die ich nicht kontrollieren konnte, haben mir Angst gemacht. Deswegen hat sich ein Teil in mir immer vor dem Leben gefürchtet. Weil es einfach tut, was es will. Es fragt mich nicht, was ich davon halte. Ich wollte mich nicht verlieren. Und genau das habe ich damit erreicht. Ich wollte um jeden Preis verhindern, dass Julian eine andere kennenlernt und mich ihretwegen verlässt. Und deswegen habe ich ihn verlassen. Weil ich den Zeitpunkt bestimmen wollte. Kontrolle. Das ist wirklich immer mein Thema gewesen.
Kapitel 32
Liebe Anja,
ich habe es getan. Ich habe gekündigt. Ich bin einfach rein gegangen und habe die Karten auf den Tisch gelegt. Du hättest mich sehen sollen. Ich glaube, du wärst stolz auf mich gewesen.
Was ich jetzt mache? Keine Ahnung. Aber ich habe hier ein paar Leute kennengelernt, die alle im kreativen Bereich arbeiten. Ich wünschte, du würdest sie kennen. Ich bin mir sicher, dass du sie mögen würdest. Vor allem Danny und Claire. Die sind auf eine fast erschreckende Art locker und entspannt (nein, sie nehmen keine Drogen – zumindest soweit ich weiß). Sowas gibt es bei uns gar nicht. Und wenn es das doch gibt, dann habe ich eindeutig mit den falschen Menschen zu tun gehabt (dich ausgenommen).
Claire hat neulich ein paar meiner Kritzeleien gesehen und sie meint, dass sie richtig gut sind. Ich weiß, dass du mir das seit Jahren sagst, aber es ist irgendwie etwas anderes, wenn man das von jemandem hört, der als objektiver Betrachter auch erbarmungslos ehrlich sein oder eben gar nichts sagen könnte. Ich hoffe, du verstehst, wie ich das meine. Du hast mich eben geliebt und vielleicht dachte ich deswegen, dass du meine Bilder und Zeichnungen irgendwie mögen musst. Also nicht musst, aber du weißt schon, wie ich das meine. (Außerdem schicke ich diesen bescheuerten Brief eh nicht ab, also ist es im Grunde egal.)
Wie dem auch sei, seit heute bin ich kein Hochstapler mehr. Meine alberne Krawatte habe ich gleich nach dem Termin in den nächsten Mülleimer geworfen. Ich könnte mir vorstellen, dass es sich ungefähr so anfühlt, wenn einem nach Jahren endlich die Handschellen abgenommen werden.
Meinem Vater habe
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