434 Tage
ist.“
„Stimmt, das habe ich“, sage ich nach einer Weile. Ich sehe mich noch dort stehen. Ich sehe eine Frau, die aussieht wie ich, die sich in einem weißen Rüschenkleid im Spiegel betrachtet. Seltsam. Im Nachhinein betrachtet, habe ich es damals schon gewusst. Zumindest ein Teil in mir hat es gewusst. Der andere wollte es nicht sehen. „Tobias ist ein toller Mann, aber er ist nicht der Mann für mich.“
„Nein.“, sagt sie und grinst. „Das war schon immer ein anderer.“ Ich ziehe an der Zigarette. „Wie geht es Julian eigentlich?“
„Als ich ihn zum letzten Mal gesehen habe, ging es ihm gut. Aber ich weiß nicht, wie es ihm jetzt geht. Ich weiß nicht einmal, wo er ist.“
…
„Und du willst sicher noch hier bleiben?“ Ich nicke. „Es war schön, dich zu sehen, mein Schatz.“
„Das finde ich auch“, sage ich und nehme sie in die Arme.
„Ruf an, wenn du Hilfe brauchst. Du weißt, dein Vater und ich sind immer für dich da. Und auch deine Geschwister. Wir sind alle für dich da.“
„Ich weiß“, sage ich und lächle. „Danke.“
Kurz bevor die Dunkelheit sie verschluckt, dreht sie sich noch ein letztes Mal zu mir um und winkt mir zu. Sie lächelt. Dann ist sie weg.
Kapitel 44
Baustelle. Chaos. Wohin man blickt, Unordnung und Schmutz. Und plötzlich wirkt es so, als wäre diese Baustelle mein Leben.
Sicher, das Haus wird wunderschön. Es wird großzügig sein und offen, es wird einmalig sein und es wird uns gehören. Viel Beton, viel Glas, viel Stahl. Tobias’ Pläne waren fantastisch. Mir hat jeder Winkel gefallen. Warum habe ich dann so ein ungutes Gefühl?
Passt dieses Haus überhaupt zu mir? Bin das ich? Beton und Glas und Stahl? Kann man sich in einer so kühlen Umgebung wohl fühlen? Tobias wollte Holz. Ich nicht. Ich wollte modern und puristisch. Aber warum habe ich mich ausschließlich für tote Materialien entschieden? Für unnatürliche, kalte, distanzierte Materialien.
Tobias legt von hinten seine Arme um mich und küsst mich auf die Wange. „Ist alles in Ordnung?“
„Ich weiß es nicht“, sage ich und seufze. „Brauchen wir wirklich ein 100 m 2 Wohnzimmer?“
„Was heißt schon brauchen?“, sagt Tobias. „Brauchen tut das niemand, aber es ist doch schön, wenn man es haben kann.“
„Ja schon, aber sind das wirklich wir? Beton, Glas und Stahl?“, frage ich vorsichtig. „Ich meine, ist das nicht kalt und distanziert?“
„Durch Möbel und Bilder wird das ganz anders wirken.“ Er dreht mich zu sich. „Du wirst sehen, Schnecke, das wird fantastisch.“
…
Noch immer Baustelle, aber kein Chaos mehr. Eigentlich ist alles fertig. Die Böden, die Bäder, die Küche. Tobias hatte recht. Es ist fantastisch. Ich mag diese harte distanzierte Fassade. Sie ist gradlinig und schnörkellos. Sie ist pur und modern. Von ihr umgeben zu sein, gibt mir ein Gefühl von Sicherheit.
Nur der Garten liegt noch wie ein verlassenes Kriegsgebiet um das Haus verteilt. Verwüstetes Erdreich, riesige Betonbrocken, Stahlträger. Die Fenster sind staubig und voller Schlieren, aber sonst ist unser Haus fertig. Es gibt mir das Gefühl von Unerschütterbarkeit und Sicherheit. Ich fühle mich geborgen und beschützt. So, als könnte nichts diese Mauern überwinden. Sie sind wie ein undurchdringlicher Schutzwall, der mich umgibt.
…
Tobias greift nach einem Bild und hält es an die Wand. „Und? Was meinst du?“ Es ist seltsam, aber von allen Bildern, aus denen Tobias hätte wählen können, hat er sich für das aggressive, abgründige entschieden. Das einzige, das mein Dämon nicht ertragen konnte. Andererseits, was geht es meinen Dämon an, welche Bilder wir aufhängen. Ich habe schon lange nichts mehr von ihm gehört. Und ehrlichgesagt habe ich ihn auch nicht vermisst. „Du magst es nicht...“, sagt er und schaut mich an. Sein Blick ist seltsam.
„Doch, es ist perfekt.“
Ein zufriedenes Lächeln wischt den fremden Ausdruck aus seinem Gesicht. Und ich lächle zurück. Dann gehe ich in die Küche. Es ist, als hätte heute mein neues Leben begonnen. Ein Leben, in dem ich mich augfehoben fühle. Ein Leben, umgeben von massiven Mauern und von warmem Sonnenlicht geflutet. Ich fühle mich irgendwie anders, aber gleichzeitig wohl. So, als wäre ich endlich erwachsen geworden.
Kapitel 45
„Ist Zimmer 605 noch frei?“
Die Augen des Rezeptionisten wandern suchend über den Bildschirm. „Ja, ist noch frei.“ War zu erwarten. Wieso sollte Julian auch hier sein?
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