434 Tage
wirklich damit aufgehört habe. Du weißt, dass es andere gab und dass es ein Leben ohne dich gibt. Du weißt, dass ich kein Anwalt bin und dass ich meine Zeit in New York geliebt und trotzdem deinetwegen beendet habe. Du weißt, dass ich ohne dich leben kann. Und ich weiß, dass du ohne mich leben kannst. Denn das ist es, was das Leben tut. Weitergehen. Deswegen sind wir hier. Weil wir einem Trieb folgen, der stärker ist als die Einsamkeit. Zumindest bei den meisten von uns.
Letzte Woche haben wir in diesem Bett gemeinsam gefrühstückt. Du hast Waffeln mit Erdbeeren gegessen. Und dein Gesicht war so strahlend schön, dass es mir fast wehgetan hat, es anzusehen.
Manchmal frage ich mich, warum ich nie etwas gesagt habe. Vermutlich wollte ich nicht besitzergreifend sein. Ich dachte, es wäre am besten zu warten. Letzten Endes war das vielleicht falsch. Vielleicht hätte ich manche Dinge wenigstens ein Mal sagen sollen. Dinge wie, entscheid dich für mich , oder Anja, ich liebe dich, oder lass dich scheiden. Ich habe oft darüber nachgedacht. Und manchmal dachte ich sogar, dass ich es tun würde. Aber dann schien jedes Mal der rechte Augenblick verstrichen zu sein, bevor ich es sagen konnte. Vielleicht fällt es mir jetzt deswegen so leicht, weil ich nichts mehr zu verlieren habe.
Am sechsten Mai vor einem Jahr haben wir uns in Genf wiedergesehen. Vor einem Jahr, zwei Monaten und acht Tagen. Das sind 434 Tage. 434 Tage voller Leidenschaft, Eifersucht und Zweifel. Auch wenn ich zwischenzeitlich anders gedacht habe, ich bin froh um jeden einzelnen Tag. Um jedes Gespräch. Um jeden Anruf. Um jedes Mal, das wir miteinander geschlafen haben. Um jeden Kuss. Ja, sogar um die inszenierte Intimität der Hotelzimmer.
Egal, was genau diese 434 Tage auch waren, für mich waren sie ein Weg zurück zu mir. Ein Eingeständnis, dass mein Stolz mir immer im Weg stand. Du wolltest die Kontrolle nicht verlieren und ich nicht mein Gesicht. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn ich meine Briefe abgeschickt hätte. Oder wenigstens den ersten. Vielleicht wäre es besser gewesen, dich wissen zu lassen, dass sich mein Leben ohne dich immer ein bisschen falsch angefühlt hat. So wie eine Hülle, die zum Teil nicht ausgefüllt ist. Funktional einwandfrei in Ordnung, aber eben nur funktional. Ohne dich ist mein Herz ein beeindruckend effizientes Organ, das meinen Körper mit Blut versorgt. Mit dir ist es aufgeregt und lebendig. Worauf ich hinaus will, ist dass du mein Leben besser machst, auch, wenn ich lange versucht habe, mir einzureden, dass es nicht so ist.
Das ist mein letzter Brief an dich. (Zumindest hoffe ich das. Wer weiß, vielleicht führe ich dieses seltsame Ritual auch weiter.) Ich werde jedes Jahr am sechsten Mai an dich denken. Und dazwischen auch.
Leb’ wohl,
Julian
Kapitel 46
Ich bin in einem seltsamen Dämmerzustand. Ich weiß, dass ich träume, wache aber nicht auf. Die Mutter meines ehemaligen besten Freundes ist gerade gestorben und trotzdem feiert er. Das Seltsame ist, dass sein Gesicht meine Augen hat. So, als steckte ich in seiner feiernden Fassade.
Julian ist bei mir. Wir sind beide wieder siebzehn. Zumindest sehen wir genauso aus wie damals. Und plötzlich ist da mein Vater und Julian ist nicht mehr zu sehen. Mein Vater und ich knien auf dem Boden und inspizieren einen Fleck. Er ist schlammbraun und hat die Form einer Schuhsohle und ich bin mir sicher, dass Julian schuld ist. Ich sehe ihn im Augenwinkel und er schüttelt den Kopf. Er sagt, dass er es nicht war. Doch ich glaube ihm nicht. Und trotzdem sage ich meinem Vater nichts, so als wollte ich nicht, dass er schlecht von Julian denkt.
Nachdem wir den Fleck aus dem Teppich gebürstet haben, verabschiedet sich mein Vater und lächelt. Er nimmt mich in den Arm und verschwindet. Und dann bemerke ich meine weißen Turnschuhe. Sie stehen hinter der Tür. Und als ich sie aufhebe, tropft Schlamm von der linken Sohle.
…
Ich sitze grübelnd im Hotelrestaurant und bestelle mir einen Cappuccino.
Ich war schuld. Es war mein Schuh. Und ich habe Julian für etwas verantwortlich gemacht, das er gar nicht getan hat. Julian hat nichts getan. Oder zumindest hat er nichts getan, das so schlimm gewesen wäre, wie das, was ich getan habe. Ich habe der Angst die Zügel übergeben und es nicht einmal bemerkt. Und während ein Teil in mir gestorben ist, habe ich mein lächelndes Gesicht aufgesetzt und die Außenwelt Glauben gemacht, dass Anja Plöger das große
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