434 Tage
Er ist vermutlich zu Hause. In einer Wohnung, die ich nie gesehen habe. In meinem Kopf lebt Julian in Hotelzimmern. Ich kenne ihn nur mit der geborgten Geborgenheit. Mit frischen Schnittblumen in den unterschiedlichsten Vasen und den verschiedensten Miniatur-Shampoo-Fläschchen. „Möchten Sie dieses Zimmer?“
Ich schaue den Rezeptionisten an, als wäre er gerade aus dem Nichts erschienen. So wie ein Flaschengeist oder eine Halluzination. „Ähm, ja, bitte.“
„Dann bräuchte ich nur noch Ihre Kreditkarte.“ Ich strecke ihm die Karte entgegen. „Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.“
„Vielen Dank.“
Während ich in den sechsten Stock fahre, stößt mich mein Dämon in die Seite. Du hättest aussteigen sollen. Ja, jetzt weiß ich das auch, vielen Dank für den Hinweis. Ich sage es ja nur. Wenn ich ausgestiegen wäre, hätte Julian mir diese Briefe nicht gegeben. Vielleicht nicht gleich, aber irgendwann hätte er sie dir gegeben. Ja, mag sein. Aber vielleicht wäre auch einfach alles genauso weitergegangen. Du versuchst dich nur rauszureden. Ist ja gut, ich habe doch gesagt, dass ich weiß, dass es ein Fehler war. Das ändert aber nichts an der Realität. Ich bin hier und er ist weg. Also, lass mich in Frieden.
…
Mit einem Handtuch um die Hüfte und einem grandiosen Handtuch-Turban lege ich mich aufs Bett. Und während ich mit geschlossenen Augen daliege, höre ich aus dem Nachbarzimmer laute Schreie. Ich setze mich auf und lausche. Das Schreien wird von einem regelmäßigen Klatschen und einem dumpfen Raunen begleitet. Na wunderbar. Das habe ich gerade wirklich gebraucht.
Ich greife nach der Fernbedienung und schalte den Fernseher ein. Bei einer Sendung über Kuba bleibe ich hängen. Als ich nach einer Stunde ausschalte, ist da noch immer das Klatschen und das Schreien und das Raunen. Das kann doch nicht wahr sein. Ich werfe beide Handtücher auf den Boden und wickle mich in die weichen Decken, dann schalte ich das Licht aus.
So muss es für unsere Nachbarn auch geklungen haben. Stundenlang. Im Nachhinein tut mir das fast leid. Vielleicht lag da auch eine Frau, die in den Scherben ihres Lebens saß. Vielleicht lag da eine Frau, die von ihrem Mann betrogen wurde und Zuflucht in einem Hotel gesucht hat. Vielleicht hat sie einen Ort gebraucht, wo sie ihre Gedanken ordnen konnte. Einen Ort, wo sie mit sich alleine ist. Doch bei so einem Lärm fällt jeder fruchtbare Gedanke in sich zusammen. Man möchte nachdenken, doch es geht nicht. Und so sehr man auch vorgibt zu versuchen, den Nachbarzimmer-Sex zu ignorieren, in Wahrheit liegt man mit gespitzten Ohren da und wartet auf das nächste Geräusch. Es ist eine Tortur.
Ich schaue auf den Wecker. Es ist fast vier Uhr. Na gut, dann schlafe ich eben nicht. Seufzend lehne ich mich zur Nachttischlampe hinüber und schalte sie ein. Die unvermittelte Helligkeit sticht in meinen müden Augen.
Auf dem Bauch liegend wühle ich in meiner Handtasche nach den letzten beiden Briefen, die ich mir eigentlich für morgen aufheben wollte. Aber sei es drum. Dann eben doch jetzt.
Als ich sie gefunden habe, kuschle ich mich wieder in die Decken. Und in diesem Augenblick wird mir klar, dass ich meine wertvollsten Besitztümer alle in meiner Tasche habe. Meine Identität und Julians Briefe. Im Falle einer Flucht würde das reichen. Das würde reichen, um ein neues Leben anzufangen.
Liebe Anja,
du liegst neben mir und schläfst. Und du riechst genau wie damals. Und du fühlst dich genauso an. So, als hätten wir die vergangenen zehn Jahre nicht verschwendet. Mit geschlossenen Augen könnten wir gerade auch in unserer schäbigen Wohnung sein. Wir könnten gerade auch in unserem alten Bett liegen. Und der laue Wind könnte auch durch unsere geöffnete Balkontür ins Zimmer schwappen.
Aber wir sind nicht in unserer heruntergekommenen Wohnung. Wir sind in einem Hotel. Und wir sind zehn Jahre älter. Und auf meinem Handydisplay habe ich zwölf Anrufe von Katja. Wenn man es genau nimmt, ist alles anders. Nur die Gefühle nicht.
Wenn du mich fragst, hat Anja Plöger ein affektiertes, blutleeres Lächeln, steife Gesichtszüge und glanzlose Augen. Aber das bist nicht du. Du bist Anja Kraus. Tief in dir bist du keine verhärmte Geschäftsfrau, die sich über ihren Erfolg definiert. Anja Kraus hat auf großen Erfolg nie viel Wert gelegt. Sie hatte lieber fantastische Träume. Diese Anja hat gezeichnet. Diese Anja hat von innen gestrahlt. Anja Plöger hat eine vernünftige Frisur,
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