46 - Waldröschen 05 - Rebellen der Sierra
Wipfel einige Bäume hervorragten.
Einige Minuten später hatte auch ‚Bärenherz‘ sich die von ihm Erlegten herausgesucht und ihnen sein Zeichen eingeschnitten. Dann ritt er, ganz wie ohne Absicht, auf dasselbe Gebüsch zu.
Hinter demselben weidete das Pferd ‚Bärenauges‘; er selbst aber stand am Ufer und blickte dem Lauf des Wassers nach, ohne sich umzudrehen, als er das Geräusch des Herannahenden vernahm, welcher abstieg und sein Pferd freigab.
Ein berühmter Häuptling darf keinem dritten sehen lassen, welche zarte Regungen er seinen Familienangehörigen widmet. Die beiden Brüder konnten unmöglich vor den Augen anderer ihre Freude über das Wiedersehen kundgeben. Darum zog ‚Bärenauge‘ sich nach diesem verborgenen Ort zurück, und darum folgte ihm ‚Bärenherz‘ mit einer Genauigkeit, als ob diese Zusammenkunft vorher verabredet worden sei.
Dazu kam, daß der jüngere Bruder noch nicht wußte, wie der ältere ihm entgegenkommen werde. Bei den Apachen hat der ältere große Vorrechte vor dem jüngeren. ‚Bärenauge‘ war jetzt Häuptling seines Stammes. Dem Gebrauch nach war er jetzt gezwungen, diese Würde seinem Bruder abzutreten. Darum war er höchst neugierig, ob ‚Bärenherz‘ sich beim ersten Wort als Bruder oder Häuptling zeigen werde. Daraufkam es nach Indianersitte an.
Während er so dastand, von Zweifeln und Befürchtungen durchzogen, legten sich zwei Arme um seinen Nacken, und sein Kopf wurde nach hinten zurückgezogen. Dann fühlte er zwei warme Lippen auf seinem Mund.
„Schi tische – mein Bruder!“ sagte ‚Bärenherz‘ mit überströmender Liebe.
„Schi nta-ye – mein Bruder!“ antwortete ‚Bärenauge‘, nun auch seinerseits die Arme um ihn schlingend.
Eigentlich heißen diese Worte nicht bloß ‚Bruder‘. Die Indianer haben nämlich besondere Bezeichnungen für den älteren und jüngeren Bruder. Ebenso ist dies auch bei Schwestern und sonstigen Verwandten der Fall. ‚Schi tische‘ heißt ‚mein jüngerer Bruder‘, und ‚schi nta-ye‘ heißt ‚mein älterer Bruder‘. Brüder untereinander werden sich niemals einfach mit dem Worte ‚Bruder‘ anreden, sondern stets die Bezeichnung ‚älterer‘ oder ‚jüngerer‘ hinzufügen. Die erstere Bezeichnung soll einen gewissen freiwilligen Respekt ausdrücken, während in der letzteren eine aufrichtige Zärtlichkeit liegen soll.
Dieses Bewillkommnen von Seiten des älteren Bruders sagte ‚Bärenauge‘, daß er von Seiten desselben für seine Würde als Häuptling nichts zu befürchten habe; darum quoll ihm sein Herz von Liebe und Dankbarkeit über. Er nahm den Tomahawk in die Linke, streckte die Rechte vor und sagte, indem ihm die Tränen über die Wangen liefen:
„Soll ich mir die rechte Hand abhauen, mein Bruder?“
„Weshalb?“
„Aus Freude, dich wiederzusehen.“
‚Bärenherz‘ nahm ihm den Tomahawk aus der Hand, steckte ihn sich in den Gürtel und gab ihm den seinigen dafür.
„Wir tauschen unsere Schlachtbeile“, sagte er. „Mein Beil ist dein, und dein Beil ist mein. So sind auch unsere Hände. Du sollst die deinige behalten, denn sie ist auch die meinige. Sie soll noch tausend Feinde der Apachen töten.“
Er setzte sich am Uferrand nieder, und sein Bruder tat dasselbe. Sie schlangen die Hände ineinander, blickten sich in die Augen und konnten sich nicht sattsehen aneinander. Da endlich drückte ‚Bärenherz‘ den Bruder fest an sich und sagte:
„Du trägst die Farben des Krieges.“
„Du auch“, sagte ‚Bärenauge‘, der die Absicht des älteren Bruders sogleich erriet und sich herzlich darüber freute.
„Die Farbe des Krieges verdeckt das Angesicht“, fuhr ‚Bärenherz‘ fort.
„Man kann es nicht sehen“, stimmte ‚Bärenauge‘ bei.
„Hier fließt Wasser zu unseren Füßen.“
„Die Farbe weicht dem Wasser.“
„Willst du mir dein Angesicht zeigen?“
„Und du mir das deinige?“
„Ich wasche mich!“
„Ich auch.“
Sie sprangen zum Wasser und entfernten das gräßliche Blau, Rot und Schwarz, welches ihre Gesichter so sehr entstellte. Dann kehrten sie an das Ufer zurück und blickten sich an. Sie sahen sich so ähnlich. ‚Bärenauge‘ war das ganz genaue, wenn auch jüngere Spiegelbild von ‚Bärenherz‘.
„Dein Angesicht ist schön!“ sagte ‚Bärenherz‘.
„Und das deinige das Angesicht eines großen Häuptlings.“
„Ich bin nicht Häuptling, ich bin dein Bruder!“
„Und ich bin dein Bruder und dein Diener. Ich habe dich sehr
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