47 Ronin: Der Roman zum Film (German Edition)
wurde plötzlich von Stolz und einem Beschützerinstinkt überwältigt. Der Drang, seinen Sohn zu umarmen und ihm zu sagen, wie sehr er ihn liebte, erfüllte Oishi. Das hatte er seit der Zeit, als sein Sohn noch klein genug war, um es nicht peinlich zu finden, nicht mehr empfunden.
Jetzt war es viel zu spät, es zu tun – insbesondere hier –, also schüttelte Oishi den Kopf und schenkte Chikara ein warmes, beruhigendes Lächeln. »Ich erinnere mich nicht«, sagte er.
Chikara sah überrascht und gleichzeitig beruhigt aus, als sie ihren Weg fortsetzten.
Kai führte die Ronin wieder aus dem Bambuswald hinaus, wie er sie hineingeführt hatte. Er ging weit vor ihnen – nicht, weil er es so wollte, sondern weil die anderen noch immer Abstand hielten. Er sah nicht zurück und wurde auch nicht langsamer, als befürchte er, dass sich dann jemand bemühen könnte, zu ihm aufzuschließen.
Als die Nachwehen seiner eigenen Willensprüfung nachließen, erkannte Oishi, dass das Halbblut bei seiner Rückkehr zunächst nicht so teilnahmslos ausgesehen hatte wie sonst. Der aufgewühlte, tief betrübte Ausdruck, den Oishi wahrgenommen hatte, war kein Spiegelbild seiner eigenen Gefühle gewesen, sondern die Anzeichen von Kais ganz persönlichen Qualen. Auch er hatte keine sichtbaren Wunden, doch Oishi war sicher, dass er seelische Wunden davongetragen hatte. Er bezweifelte, dass seine eigene Seele jemals wieder wie vorher sein würde.
Oishi hatte sich so viele Sorgen um Chikaras Wohlergehen gemacht, dass er an nichts anderes hatte denken können. Und dann war er zu beschäftigt damit gewesen, die Gratulationen und Fragen abzuwehren, die er ohnehin nicht beantworten konnte, um sich darüber Gedanken zu machen. Doch jetzt erkannte er, dass keiner seiner Männer dem Halbblut gegenüber seinen Dank zum Ausdruck gebracht hatte. Nur er – und vielleicht Kai – wussten, dass seine eigene Schwäche sie ins Verderben gestürzt hätte, wenn Kai seinen Zweikampf mit dem
tengu
-Fürsten nicht im richtigen Zeitpunkt gewonnen hätte. Es schien, als liefere die unfassbare Perfektion der Schwerter, die Kai ihnen versprochen und die er für sie gewonnen hatte, den anderen nur einen weiteren Beweis für ihre schlimmsten Ängste und dafür, dass ihre Vorurteile der Wahrheit entsprachen.
Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er selbst ebenfalls nichts zu Kai gesagt hatte. Er war durch sein Leiden zu traumatisiert gewesen, um Kai zu fragen, ob es ihm gut ging oder was er durchgemacht hatte. Allerdings bezweifelte er, dass das Halbblut ihm geantwortet hätte. Schließlich hatte er seinem Sohn auch nicht die Wahrheit gesagt.
Sein Ehrgefühl sagte ihm, dass sein Verhalten unzumutbar war und dass er Kai sofort im Namen aller danken sollte. Doch jetzt da er sich wieder sicher in seiner Welt und unter seinesgleichen befand, wurde das Bedürfnis, sich vor dem Halbblut demütig zu zeigen, durch seinen tiefsitzenden Standesdünkel gedämpft, der ihm sagte, dass Kai aus freien Stücken bei ihnen war und seine Gründe dafür hatte. Dieselbe unversöhnliche innere Stimme bestand darauf, dass ihr Respekt oder ihre Dankbarkeit Kai jetzt ebenso wenig bedeuten würde wie damals, als sie ihn aus reiner Boshaftigkeit einen Dämonen nannten, ohne zu wissen, wie nah sie damit der Wahrheit kamen …
Kai konzentrierte seine Gedanken auf den vor ihnen liegenden Weg und seinen Blick auf das Sonnenlicht, das durch das hohe Bambusdickicht hindurchsickerte. Er wollte unbedingt den Steinwächter des Dämonentors erreichen, weil er wusste, dass dieser das Letzte war, das er jemals von den
tengu
sehen würde. Erleichterung und das Gefühl, endlich abschließen zu können, erfüllten ihn bei dieser Aussicht. Nach zwanzig Jahren hatte er seinem früheren Fürsten endlich bewiesen, dass er das Recht hatte, über sein Leben selbst zu bestimmen, und dass er nicht aus Schwäche davongelaufen war.
Er versuchte, nicht an das Trugbild von Mika zu denken oder die Stimme seines Pflegevaters zu hören. Er wusste, dass Sojobo ebenso gut lügen konnte wie jeder Mensch. Allerdings hatte er erkannt, dass er seinem Adoptivsohn viel tiefere Wunden zufügen konnte, wenn er ihm einfach die Wahrheit sagte. Sogar der unerwartete innere Konflikt des Ältesten bei Kais Abschied war umso schmerzhafter, weil er echt war.
Und die Behauptung seines früheren Fürsten hatte sich als so prophetisch wie immer erwiesen:
»Sie werden dich niemals anerkennen.«
Schwerter für die Ronin zu gewinnen, hatte
Weitere Kostenlose Bücher