5 1/2 Wochen
diesem Alter gehört, voller Energie. Ihr Spiel heißt „Opa nerven“. Wild und laut lachend toben sie um den Tisch herum und zupfen neckend an den Karten, die die Opas krampfhaft in den Händen halten. Die lassen sich aber nicht wirklich vom Karten abhalten und versuchen, das Benehmen der Kinder zu ignorieren. Das finden sie total doof und setzen noch einen drauf. Jetzt klettern sie an ihren Opas hoch und fangen mit einem Umstyling an. Mit wilden Frisuren bleiben die Blicke der Senioren starr auf die Karten gerichtet - es hat ein bisschen was von Wahnsinn... Erst als neu gemischt werden muss, fällt ihnen auf, wie der jeweils andere aussieht. Ich hätte als Kind mächtig Ärger bekommen, wenn ich meinen Vater oder Opa beim Kartenspiel so genervt und zugerichtet hätte - vor allem in der Öffentlichkeit. Und was passiert hier. Die Männer gucken sich an, brechen in schallendes Gelächter aus und klopfen sich auf die Schenkel. Das Ende vom Lied ist: Die Kinder haben die Karten in ihre Gewalt bekommen und dürfen auch mal eine Runde spielen. Die Spanier haben eben große Herzen und leben die Gelassenheit. Na, dann kann ich ja beruhigt meinen Weg fortsetzen.
Ein sehr steiler Weg führt mich auf einen Steg. Auf ihm überquere ich die A6 und gehe weiter auf Feldwegen zwischen Weingärten. Und wieder ist die Landschaft atemberaubend schön und hügelig. Obwohl es lecker warm ist und noch gute dreizehn Kilometer vor mir liegen, bin ich zuversichtlich, es bis Villafranca del Bierzo zu schaffen.
Es ist zehn vor fünf als ich mitten in diesem Weinbaugebiet an einem handgemachten hölzernen Hinweis vorbeikomme auf dem steht „Santiago de Compostela 195“. Kaum zu glauben: Wir haben die 200- Kilometer-Marke unterschritten. Ich drehe mich im Kreis. Santiago ist zum Greifen nah und doch so fern. Der Frankfurter Flughafen ist von meinem Zuhause 195 Kilometer entfernt. Mit dem Auto sind wir da locker zwei Stunden unterwegs. Der ICE braucht nicht mal eine Stunde. Mir bleiben noch acht, allerhöchstem neun Tage zum Laufen. Acht Tage wären besser; ich will ja noch mit dem Bus nach Fisterre. Schaffe ich das? Was für eine Frage?! Na klar! Wer oder was sollte mich aufhalten? Das macht durchschnittlich knappe 24 Kilometer am Tag. Ich liege also genau im Plan. Ich empfinde in diesem Moment viel Stolz und Ehrfurcht vor mir selbst, dass ich es bis hierhin schon geschafft habe. Was für ein Gefühl!
Ich setze mich an den Wegesrand. Ruddi legt sich wie immer in meinen Schatten und sieht mich mit treuen Augen an. Ich streichle diesen kleinen Körper, die langen, schlanken Beinchen und die kleinen, pechschwarzen Pfoten. Es stecken so viel Kraft und Ausdauer, Mut und Gelassenheit in diesem Hund. Wie oft werden gerade kleine Hunde - meistens von Nicht-Hundemenschen - als Schoßhündchen abgestempelt? Die Pilger, die uns auf diesem langen Weg bisher begegnet sind, bewundern ihn täglich und können es nicht glauben, dass er wirklich - bis auf ganz kleine Ausnahmen - immer selber läuft. Er und ich waren all die Jahre schon ein sehr gutes Team, aber der Jakobsweg mit all seinen unvorhersehbaren Gegebenheiten hat unsere Mensch-Hund-Beziehung zu einer einzigartigen gemacht. Jedes Mal, wenn ich auf dieses kleine und so großartig disziplinierte Energiebündel sehe, fühle ich eine tiefe Liebe in meinem Herzen.
In Cacabelos gibt es noch einen Café con leche auf die ganz schnelle. Es fehlen noch gute sieben Kilometer und mein Reiseführer verspricht mir einige Auf und Abs. Zunächst geht es auf einer Landstraße weiter, die ziemlich gut befahren ist. Es fängt leicht zu regnen an. Ich überlege, ob ich mir meinen Poncho antue oder nicht. Ehrlich gesagt, ist er ja auch ein bisschen lästig und außerdem ist mir warm. Ich warte noch, bin ja nicht aus Zucker. In der Tat geht es ständig kurz aber heftig steil bergauf und bergab.
Ungefähr drei Kilometer vor Villafranca del Bierzo geht es auf Feldwegen weiter. Der Regen ist stärker geworden und die Stadt, in der ich auf jeden Fall übernachten muss, kommt immer näher. Damit ich Ruddi rechtzeitig verstecken kann, kommt mein Poncho nun doch zum Einsatz. Ich kann heute kein Risiko eingehen. Nach 31 Kilometern spielt mein Körper nicht mehr mit. Meine Ventile klappern jetzt schon.
gleicher Tag (insgesamt 599,6 km gelaufen)
Villafranca del Bierzo (2631 Einw.), 511 m üdM, Provinz León
Ein-Sterne-Hostal, Doppelzimmer, 45 Euro ohne Frühstück
Wow, ich bin da! Ich könnte auch keinen einzigen
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