5 1/2 Wochen
fühlen uns wie im Schlaraffenland, haben den Eindruck, dass wir träumen. Nach kurzer Zeit sind wir wieder gefasst und in der Lage nachzufragen, was wir gerade erleben dürfen. Der Mann erzählt uns, dass er weiß, wie lang 13 Kilometer ohne Aussicht auf Versorgung werden können und hat es sich deshalb zur Aufgabe gemacht, den Pilgern bei Bedarf zu helfen oder sie einfach nur aufzuheitern. Er steht meistens an dieser Stelle - manchmal aber auch in den Pyrenäen. Mir stellt sich die Frage, ob er es wohl war, der mir vor ein paar Tagen in der Nähe des „Adler-Landeplatzes“ mit der „Pilger-Toilette“ vor der Nase weggefahren ist. Wie dem auch sei, ich fühle mich gerade wie eine Königin, die ja wohl auch in der Einsamkeit immer gut versorgt wird.
Er fragt noch einmal nach dem Befinden unserer Füße. Ina hat wohl ihre Blasen vergessen, denn sie sagt, es sei alles in Ordnung. Ich erinnere sie daran, dass sie einen dicken Verband um ihre Fessel trägt und so manches Pflaster auf ihren Füßen klebt. Sie wehrt sich. Ich habe keine Ahnung warum und lasse nicht locker, bis sie aufgibt und ihre Schuhe auszieht. Als ich sehe womit sie sich seit Tagen rumquält, bleibt mir die Luft weg. Die Blasen sind offen und eitern teilweise. Ich frage mich, wie viel Schmerz sie wohl aushält und vor allen Dingen, warum sie sich zunächst nicht helfen lassen wollte. Der Mann nimmt sich liebevoll und fürsorglich ihrer Füße an und erneuert die Wundauflagen.
Ich trinke genussvoll meinen Kaffee, schaue mich um und genieße es, in dieser eindrucksvollen Landschaft sitzen zu dürfen. Ich entdecke Sabrina, Oliver und Achim, die auf uns zu kommen und genauso dumm aus der Wäsche gucken, wie wir es wohl eben gemacht haben. „Na, Euch geht es ja besonders gut! Was ist denn hier los?“ fragen sie lachend. Die Begrüßung fällt so aus, als ob wir uns an dieser Stelle zu einer Party treffen wollten. Wenn ich mir die Gäste so ansehe, ist das allerdings eine Kostümparty unter dem Motto „Landstreicher“, zu der jeder was mitbringen muss. Oder was hat es mit den Rucksäcken auf sich? Zu allen Schandtaten bereit, setzen sie sich zu uns. In diesem Moment erreicht auch Edit freudestrahlend diesen Platz. Es ist eine Wiedersehensfeier alter Freunde. Wir fallen uns in die Arme, als hätten wir uns jahrelang nicht gesehen. Ich staune immer wieder darüber, wie nah beieinander man auf diesem Weg läuft, ohne es zu merken. Plötzlich findet man sich - ohne Verabredung und ohne den anderen gesucht zu haben.
Inas Wunden sind frisch versorgt, der Kaffee ist getrunken und jetzt ist es an der Zeit, weiterzugehen. Die heutige Etappe hat ja gerade erst angefangen. Von insgesamt 31,4 Kilometern liegen noch schätzungsweise 22 vor uns. Ruddi hat die Pause übrigens auch genutzt. Er hat sich auf der Wiese gesonnt und ein bisschen geschlafen. Ich frage den Señor, wie viel Geld ich ihm schuldig bin. “Was du geben willst. Ich mache das gegen eine Spende.“ Dieses Erlebnis und der leckere Kaffee sind mir locker fünf Euro wert und ich hoffe, dass er diese „Geschäftsidee“ fleißig fortsetzt und wir ihn auf dem Camino noch öfter antreffen werden. Ich frage mich, ob Hermann sich gestern auch hier ausgeruht hat? Ich habe ein weiteres Geschenk am Wegesrand pflücken dürfen, das ich verpasst hätte, wenn ich Villamayor de Monjardín gestern fluchtartig verlassen hätte.
Beschwingt setzen wir unseren Weg fort. Ich bin sehr überrascht, wie viele Pilger auf den paar Kilometern bis nach Los Arcos mit uns unterwegs sind. Drei oder vier Mal werden wir überholt. Es bleibt ein Phänomen - sie tauchen immer aus dem Nichts auf. In Los Arcos genehmigen wir uns einen Café con leche in einer Bar. Hier bleiben wir aber nicht allzu lange, denn Viana kommt ja nicht zu uns, sondern wir müssen dahin.
Der Weg und das Wetter bleiben gnädig und so kommen wir sehr gut voran. Der Ausblick erinnert mich an eine Mondlandschaft. Die zahlreichen Hügel wirken durch ihr Grau ein bisschen kühl. In der Ferne können wir schon sehr lange den kleinen Ort Sansol ausmachen, aber wir haben den Eindruck, als liefe er vor uns weg - kommen ihm augenscheinlich nicht näher. Das macht mürbe und wir legen eine Rast am Wegesrand ein. Mein Hund ist heute wieder fit wie ein Turnschuh und aus seiner Sicht könnten wir auch einfach weiterlaufen. Diesmal sitze ich alleine auf seiner blauen Decke. Ich bewundere diesen kleinen Vierbeiner und beobachte ihn ein bisschen. Er schnüffelt ganz
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