5 Jahre - 5 Geschichten: Die besten Storys aus dem LYX-Schreibwettbewerb (German Edition)
müde. Tiefe Schatten lagen auf einmal unter seinen Augen. Und das Funkeln in seinen grünen Augen war fort.
Seine Worte prasselten wie ein sanfter Regenschauer auf mich ein und begannen etwas in mir zu bewirken. Da war irgendetwas, das mir schon früher aufgefallen war, doch in dem ganzen Chaos hatte ich es noch nicht richtig erfassen können. Jetzt aber griff ich danach und hielt es fest.
»Woher weißt du davon?« Ich wandte mich ihm ganz zu, bemerkte jedes noch so kleine Detail in seinem Gesicht. Die kleine Narbe an der Stirn über der linken Augenbraue, die dunklen Stoppeln auf seinem Kinn, die seine Gesichtszüge noch markanter wirken ließen. »Von Mia, meine ich.« Ich richtete meinen Blick wieder auf seine Augen. »Dass sie hier wohnt und ich hier sein würde.« In meinem Kopf begann es zu arbeiten. Immer mehr Fragen tauchten plötzlich auf. »Oder dass ich zu Josh fahren würde.«
Er sah mich lange an, bevor er antwortete: »Ich kenne dich.« Er blickte gen Himmel, an dem sich inzwischen die ersten Sterne zeigten, und schloss für einen Moment die Augen.
Ich beobachtete ihn von der Seite und wartete ungeduldig auf seine Antwort. Wie war das noch mal? Nichts geschah ohne Grund, und alles war Teil eines großen Plans? Schon klar. Doch selbst wenn das stimmte, warum kannte Noah mich angeblich? Warum schien er immer zu wissen, wo ich gerade war und wo ich als Nächstes hinwollte?
»Wir sind uns schon einmal begegnet«, sagte er schließlich und schaute mich an. In der hereinbrechenden Dunkelheit wirkten seine Augen dunkler und die Schatten darunter noch tiefer.
Angestrengt versuchte ich mich daran zu erinnern, Noah schon einmal begegnet zu sein. Doch der Name Noah kam in meinem alten Leben einfach nicht vor, da war ich mir sicher. Dennoch verspürte ich vom ersten Moment an eine merkwürdige Vertrautheit mit ihm. Und dann fiel mir noch dieser Kommentar bei unserem ersten Zusammentreffen ein, dass er sich langsam daran gewöhnte, angerempelt zu werden …
»Oh Gott«, flüsterte ich und sprang auf. »Die Beerdigung – du … « Ich fuhr mir durch das dunkle Haar und starrte ihn fassungslos an. »Du warst auf der Trauerfeier!«
Er nickte.
Natürlich! Wie um Himmels willen konnte ich das vergessen? Er war dort gewesen. Nachdem mir die vielen Leute ihr Beileid ausgesprochen und die Hand geschüttelt hatten, war ich buchstäblich mit ihm zusammengestoßen – und er hatte mich festgehalten. Deshalb kam er mir so bekannt vor, und deshalb war mir seine Art, mich so durchdringend anzuschauen, von Anfang an vertraut gewesen. Er hatte mich schon einmal so angesehen.
»Aber … warum warst du dort? Wieso sind wir uns schon vorher einmal begegnet?« Ich war noch verwirrter als zuvor. »Du hast mit Mia gesprochen«, stieß ich hervor, noch bevor Noah die Chance hatte, zu antworten. Jetzt erinnerte ich mich genau. Als Josh mich weggeführt hatte, hatte ich mich noch einmal umgedreht und sein Gespräch mit meiner Schwester beobachtet. Selbst damals hatte sich in mir die Frage geregt, woher die beiden sich wohl kannten.
Unvermittelt stand Noah auf, zog seine Jacke aus und legte sie mir um die Schultern. Erst als Wärme und ein männlich-herber Duft mich umhüllten, fiel mir auf, dass ich fror.
»Mia und ich sind zusammen zur Schule gegangen«, erklärte Noah jetzt und schob die Hände in die Taschen seiner Jeans.
Ungläubig starrte ich ihn an. Wie konnte es sein, dass ich ihn nie kennengelernt, nie von ihm gehört hatte? Meine Schwester war nur zwei Jahre älter als ich und wir waren unser Leben lang unzertrennlich gewesen. Ihre Freunde waren immer auch meine gewesen.
»Erinnerst du dich an Mias zehnten Geburtstag?«, fragte er, und sein durchdringender Blick schien mich zu durchbohren. »Oder an das Schulfest im Sommer ein Jahr später, als du den Unfall hattest und nicht kommen konntest?«
Mein Puls beschleunigte sich. Wie konnte er das alles wissen? Ich schluckte schwer, versuchte das heftige Pochen in meiner Brust zu ignorieren.
»Ich war krank, deshalb konnte ich nicht auf ihre Geburtstagsparty«, murmelte ich und fasste mir unwillkürlich an die Stirn. Die Erinnerung an diesen Tag war verschwommen, doch wollte ich sie nicht loslassen, genauso wenig wie ich meine Schwester oder mein bisheriges Leben loslassen wollte.
»Und der Unfall … « Damals waren wir spät dran gewesen. Dad hatte eine rote Ampel übersehen und einen Unfall gebaut. Erst im Krankenhaus war ich wieder zu mir gekommen, mit einem Gips
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