55 - Die Liebe des Ulanen 01 - Im Auftrag Seiner Majestät
Müller war vollständig geblendet.
„Der Scheïtan (Teufel) ist da! Flieht, sonst seid ihr verloren!“
Diese Worte rief Hassan, dann warf er die Laterne weg, und verschwand zwischen den Bäumen des Waldes. Die beiden anderen blieben stehen. Es war wieder still und dunkel geworden; die weibliche Gestalt war verschwunden.
„Was war das?“ flüsterte Fritz.
„Glaubst du an Gespenster?“ antwortete Müller.
„Fällt mir nicht ein“, meinte der wackere Ulanenwachtmeister.
„Nun, so mußt du doch gesehen haben, was es war!“
„Sie meinen Pulver, Kolophonium und Bärlappsamen?“
„Ja. Das waren künstliche Blitze, und auch der Donner war imitiert. Der echte Donner rollt; dieser aber bestand aus einzelnen Schlägen. Ich glaube, man hat einige Kanonenschläge abgebrannt, das ist alles.“
„Was tun wir nun? Füllen wir das Grab wieder zu?“
„Nein. Man weiß, daß wir hier sind; man beobachtet uns. Vielleicht hat man uns gar nicht erkannt; dies würde aber sicher geschehen, wenn wir länger hier bleiben, lassen wir die Arbeit, das Grab zuzuschütten, denen, welche es gut verstehen, ein Feuerwerk abzubrennen. Ich weiß etwas Besseres, was wir tun können. Komm!“
Diese kurze Unterhaltung war so leise geführt, daß man sie in nächster Nähe nicht hätte verstehen können. Müller machte den Schieber seiner Laterne zu und steckte sie ein. Dann faßte er Fritz beim Arm und zog ihn fort. Als beide eine genügende Strecke zurückgelegt hatten, blieb der Doktor stehen und flüsterte:
„Hassan ist ein abergläubischer Mohammedaner; er ist fortgelaufen. Wir aber sind Christen und außerdem Soldaten; wir lassen uns nicht ins Bockshorn jagen. Wir kehren jetzt leise und unbemerkt zum Grab zurück und beobachten, was da geschehen wird.“
Sie schlugen einen Umweg ein und schlichen sich, diesmal von der anderen Seite, auf das Grab zu, so vorsichtig, daß man ihr Nahen gar nicht bemerken konnte.
SECHSTES KAPITEL
Erpressung
Der Leser mag verzeihen, daß er jetzt aus dem Jahre 1870 ganz plötzlich um volle fünfundfünfzig Jahre in das Jahr 1814 zurückgeführt wird!
Es ist mit den Völkern ganz so wie mit dem einzelnen Menschen. Wer die Errungenschaften und Enttäuschungen, die Erfolge und Verluste des Alters verstehen will, der muß zur Jugendzeit zurückkehren. Ein Tag wächst aus dem anderen, ein Jahrhundert aus dem vorhergehenden heraus. Taten und Ereignisse, die sich scheinbar nicht begreifen lassen, schlagen ihre verborgenen Wurzeln in die Vergangenheit. Und so wird auch manches, was auf Ortry jetzt geschehen ist, und vieles, was dort noch geschehen wird, nur verstanden werden, wenn der Vorhang zurückgezogen wird, hinter welchem die verflossenen Jahre im Dunkel liegen.
Also es war im Jahre 1814. Napoleon der Erste war besiegt und bereits nach seinem Verbannungsorte, der Insel Elba, unterwegs. Am 31. März waren die Verbündeten in Paris eingezogen, an ihrer Spitze die Herrscher Österreichs, Rußlands und Preußens. Einer aber, der zu dem Sieg der vereinigten Waffen wohl das meiste beigetragen hatte, saß auf dem Montmartre und konnte nicht mit an dem Zuge teilnehmen; das war der alte Blücher.
Der greise Feldmarschall ‚Vorwärts‘ litt am Fieber und an einer peinlichen Augenentzündung. Noch die Schlacht von Paris hatte er geleitet, mit dem Schirm eines grünseidenen Damenhutes vor den Augen. Als der Einzug begann, zeigte er sich auch, hoch zu Roß und den grünen Schirm unter dem Generalshut: aber es gelang den Bitten Gneisenaus und des Generalchirurgus Dr. Völzke, ihn zum Zurückbleiben zu bewegen.
Bald aber erlaubte ihm eine Besserung seines Zustandes, in der Stadt zu wohnen, und so bezog er das Palais des Herzogs von Otranto in der Rue Cerutti. Von hier aus spazierte er täglich in der Stadt herum, um die Sehenswürdigkeiten derselben kennen zu lernen. Am liebsten ging er im Garten oder unter den Laubengängen des Palais Royal umher, den einfachen, bürgerlichen Überrock an und die unvermeidliche Pfeife im Mund. Oft kam er zu dem Gastwirt Very in den Tuilerien, trank Kaffee mit Milch oder ein Warmbier und zog ganz gemütlich den Rock aus, wenn ihm zu warm wurde.
In diesem Lokal saßen eines Nachmittags mehrere Herren beim L'Hombre. Ihrer Aussprache nach mußten sie geborene Franzosen sein, und ihre Haltung verriet, daß man sie als Angehörige des Militärstandes betrachten müsse.
An einem in der Nähe stehenden Tisch saß ein junger Mann in Zivil, welcher sich den Anschein gab,
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