55 - Die Liebe des Ulanen 01 - Im Auftrag Seiner Majestät
die Hand auf den Kopf und sagte:
„Ich wüßte wohl etwas sehr Schönes. Hat die Baronesse ihre Mutter lieb gehabt?“
„Oh, sehr. Sie ist sehr oft nach diesem Grab gegangen.“
„So wollen wir von diesen Blumen pflücken und sie in ihr Zimmer setzen, damit sie, sobald sie kommt, einen Gruß von der Mutter erhält.“
Die Augen des Knaben glänzten.
„Ja, das wollen wir tun. Aber niemand darf es wissen, sonst zanken die anderen.“
Und nun saßen die beiden am Grab der Heidin und sammelten Blumen für diejenigen, der beider Herzen entgegenschlugen, das Herz des einen in erwachender Bruderliebe, das des anderen aber im heißen vollbewußten Verlangen nach der höchsten Seligkeit des Erdenlebens.
Es war fast Mittag geworden, als sie nach Hause kamen. Auf dem Feld zwischen dem Schloß und dem Etablissement erblickten die Wanderer zahlreiche Arbeiter, welche beschäftigt waren, die Leitung aus dem Boden zu nehmen. Die beiden gingen zunächst nach Müllers Stübchen, um die Blumen zu zwei Buketts zu ordnen. Dann schrieb Alexander auf ein Papier die Worte:
„Meiner lieben Marion vom Grabe ihrer Mutter. Alexander.“
Und hernach trug er selbst die Buketts nebst der Widmung nach dem Zimmer der Erwarteten, neben welchem man ein anderes für die Freundin bestimmt hatte. –
Der Deutsche hatte sich sein Frühstück auf seine Stube kommen lassen. Er war noch mit demselben beschäftigt, als ein Wagen zum Tor hereinrollte. Rasch trat er an das Fenster und blickte hinab. Ja, da stieg sie aus, die Herrliche. Sein Herz schlug ihm in der Brust, daß er es hören konnte. In welche Umgebung kam sie? Würde sie bleiben oder dem kalten Leben wieder entfliehen?
Eben als Nanon ausstieg, kam der Kapitän herbei. Er reichte der Enkelin einfach die Hand und machte ihrer Freundin eine Verbeugung.
„Das Frühstück ist serviert“, sagte er. „Kommen die Damen nach dem Speisesalon?“
„In einer Viertelstunde, lieber Großpapa“, antwortete Marion. „Wir müssen doch erst den Reisestaub abfegen.“
„Gut, so warten wir!“
Damit ging er davon.
Das war der ganze Empfang nach einer mehrjährigen Abwesenheit. Eine tiefe Bitterkeit wollte in Marions Herzen emporsteigen, aber sie zwang dieselbe tapfer hinab. Auch Nanon hatte ein anderes Willkommen erwartet, doch hatte sie die Freundin viel zu lieb, als daß sie es sich hätte merken lassen mögen.
Eine Dienerin führte beide in das Schloß. Sie begaben sich zunächst nach Marions Stube. Dort war alles noch so, wie diese es vor Jahren verlassen hatte. Aber da, da standen zwei Buketts mit einfachen Waldblumen, und zwischen den beiden Vasen lag ein Zettel.
„Meiner lieben Marion vom Grabe ihrer Mutter. Alexander“, las die Baronesse, und sofort füllten ihre Augen sich mit Tränen. „Von meiner lieben, lieben Mama!“ rief sie. „Und Alexander hat sie gepflückt, der garstige Alexander, wegen dessen ich aus Ortry geflohen bin. Oh, wie lieb will ich ihn dafür haben!“
Sie barg das tränenüberströmte Antlitz in den einfachen Blumen, und Nanon trat in das Nebenzimmer, um ihre Freundin mit ihren Gefühlen alleinzulassen. Beide hatten nicht bemerkt, daß sie den Eingang offen gelassen hatten. Dort stand Alexander und hörte die Worte der Stiefschwester. Wie schön war sie! Fast kannte er sie nicht mehr. Er fühlte eine Art geschwisterlicher Ehrfurcht in seinem Herzen aufsteigen; dennoch aber schlich er leise näher und legte die Arme um sie.
„Marion!“
Sie drehte sich zu ihm herum und erkannte ihn.
„Alexander!“
Sie breitete die Arme aus, und dann lagen die Geschwister zum ersten Mal einander am Herzen. Dieser Augenblick hatte für Alexanders Gemütsleben eine unendliche Bedeutung. Indem Müller ihm den Rat gab, die Blumen zu pflücken, hatte er mehr für ihn getan, als wenn er ihm tausend Reden gehalten hätten. Marion küßte den Bruder und sagte:
„Wie freudig hast du mich überrascht, mein guter Alexander!“
„Einen Gruß von deiner Mama, sagte Monsieur Müller“, erklärte er.
„Monsieur Müller? Wer ist das?“ fragte sie.
„Mein neuer Gouverneur, ein Deutscher.“
„Ein Deutscher? Oh, das glaube ich! Die Deutschen haben ein Herz; sie wissen, daß die Liebe das herrlichste Gut der Erde ist.“
„Ohne ihn hätte ich nicht an diese Blumen gedacht. Diese Freude haben wir ihm zu danken, liebe Marion. Er ist auch der Anlaß, daß ich dich von jetzt an recht liebhaben werde. Doch, komm zum Frühstück; Mama wird sonst böse!“
Ein Schatten flog
Weitere Kostenlose Bücher