595 Stunden Nachspielzeit - Humorvoller Roman (German Edition)
Augenaufschlag.
»Meinetwegen können wir stundenlang so verharren, aber nur, wenn wir uns endlich duzen. Jetzt, wo wir uns so nahegekommen sind.«
Verschmitzt lächelt sie. »Katharina«, stellt sie sich überflüssigerweise vor. »Und vielleicht kriegst du irgendwann die Erlaubnis, mich Kathi zu nennen.«
***
»Was haltet ihr von einem Eis?«, frage ich auf der Rückfahrt.
Wir nähern uns einem kleinen Einkaufszentrum, in dem sich eine Eisdiele befindet. »Ich lade euch ein.«
»Joghurt und Erdbeere«, informiert mich Noah begeistert.
»Damit ist mir die Entscheidung wohl abgenommen«, sagt Katharina. »Ich bevorzuge Haselnuss und Malaga.«
Am Beginn der Einkaufspassage steigen wir vorschriftsmäßig von den Rädern ab. Wir schieben sie bis zu unserem Ziel, vor dem eine Sitzbank steht, die die beiden in Beschlag nehmen.
Mit den drei Eiswaffeln in der Hand – ich habe Pfefferminze und Schokolade bestellt – setze ich mich zu meinen Nachbarn. Als ich Noah seine Waffel reiche, verzieht er für einen kurzen Moment das Gesicht.
»Stimmt etwas nicht?«, wundere ich mich.
»Joghurt muss immer zuerst ins Hörnchen«, erklärt er mir eines der Naturgesetze seiner Welt. »Trotzdem lecker«, beruhigt er mich. »Danke. Fürs nächste Mal merkst du dir das, ja?«
Seine Mutter grinst, während ich salutiere. Den Gedanken, dass es möglicherweise kein nächstes Mal geben wird, ersticke ich im Keim, indem ich Noah nach seinen Lieblingsfächern in der Schule frage.
»Deutsch«, antwortet er wie aus der Pistole geschossen. »In Mathe bin ich ganz gut. Ich hasse Kunst, Musik ist öde, Sport macht mir nur bei Ballspielen Spaß, Englisch ist irgendwie komisch und Sachunterricht meistens langweilig. Religion macht zwar keinen Spaß, doch da kriege ich eine Eins. Deshalb ist es okay.«
»Wie sind deine Noten von Reli abgesehen?«
Der Junge konzentriert sich schweigend auf sein Eis.
»Erde an Noah?«, hakt seine Mutter nach.
»Ich esse gerade, da soll ich nicht reden«, verteidigt sich ihr Sohn.
»Als würde dich das sonst stören.«
»Sag du es ihm.«
»In Deutsch ist er richtig gut, auf dem letzten Zeugnis hatte er eine Zwei. Mathe Drei, dieses Halbjahr könnte es eine Zwei werden. In Kunst steht er vier. Musik, Sport und Englisch drei. Im Sachunterricht wird es wohl eher eine Vier, nachdem er den Abschlusstest verhauen hat.«
»Ödes Fach«, murmelt er.
»Leider hält es mein Kind nur für notwendig, sich in Fächern anzustrengen, die ihm Freude bereiten.«
»So war ich in seinem Alter auch«, unterstütze ich ihn.
»Toll«, brummt sie. »Jetzt darf ich mir jedes Mal anhören, dass ein berühmter Autor wie du früher in der Schule auch nicht gut war.«
Achselzuckend lecke ich an meinem Eis.
***
Als wir vor meiner Tür stehen, spüre ich das dringende Bedürfnis, die Zeit mit ihnen weiter auszudehnen.
»Was haltet ihr von einem gemeinsamen DVD-Abend?«, schlage ich daher vor.
Noah sieht mich mit großen Augen an. »Einen Film bei dir gucken? Au ja!«
»Meinetwegen«, gibt Katharina ihre Zustimmung, die sie sogleich einschränkt. »Allerdings nicht vor sechs. Du musst zuerst baden.«
Wie aufs Stichwort und ohne Verabschiedung saust er die Treppe hoch. Amüsiert schauen wir ihm hinterher. Er schließt mit seinem eigenen Schlüssel die Wohnungstür auf und drückt sie nach dem Eintreten von innen zu.
»Bestimmt lässt er sich sofort Wasser ein«, mutmaßt seine Mutter.
»Welche Filme habt ihr zuletzt im Kino gesehen?«, erkundige ich mich.
»Kino?«, erwidert sie. »Wir waren mindestens seit einem Jahr nicht im Kino.«
»Dann besorge ich uns einen aktuellen Streifen aus der Videothek. Mag Noah Chips?«
»Verwöhn ihn nicht!«
»Für mich gehören Chips zu einem gelungenen Videoabend. Die Frage ist bloß, wie groß die Tüte sein soll. Vorsichtshalber werde ich eine Familienpackung kaufen.«
Sie wirft mir einen Blick zu, der meinen Puls in den Frequenzbereich eines Marathonläufers kurz vor der Zielüberquerung treibt.
»Bis später«, flüstert sie.
In meiner Wohnung angle ich den Autoschlüssel vom Schlüsselbrett und mache mich auf den Weg in die Videothek, wo ich den neuesten Pixar-Streifen ausleihe.
***
Abends sitzen wir im abgedunkelten Wohnzimmer, Noah genau zwischen uns. Trotz der amüsanten Abenteuer schenke ich den Geschehnissen auf der Bildfläche kaum die nötige Aufmerksamkeit. Stattdessen mustere ich immer wieder heimlich Katharinas Profil und erfreue mich an Noahs glucksendem
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