60 - Der verlorene Sohn 01 - Der Herr der tausend Masken
seine Augen glänzten, und seine Witze sprühten vor Geist.
Sie bemerkte das gar wohl. Oh, er hatte recht gehabt, als er sagte, daß die Seele von der Materie abhängig sei. Er hatte gehungert. Er hatte vielleicht nie ein solches Mahl gehabt. Jetzt zeigte sich die geistige Wirkung dieses materiellen Überflusses.
Er sprach und kaute und kaute und sprach; sie konnte ihr Auge nicht von ihm wenden; denn er war jetzt schön, wirklich schön. Sie fühlte, daß sie ihn liebe, daß sie ihn haben müsse, daß sie um seinen Besitz mit jeder Gegnerin ringen und kämpfen werde.
„Sie sagten, daß Sie noch mit keiner schönen Dame gespeist hätten?“ fragte sie. „Ist das wörtlich zu nehmen?“
„Ja, wörtlich“, nickte er.
„So sind Sie wohl selten in Damengesellschaft gewesen.“
„Nie.“
„Das ist kaum glaublich. Ein junger Herr Ihres Alters pflegt schon einige Liaisons gehabt zu haben.“
„Liaisons? O weh! Diese Herren sind zu beklagen!“
„Oder vielmehr ihre Damen!“
„Beide! Ich würde mir nie eine Liaison gestatten.“
„Warum?“
„Weil sie eine Versündigung ist, eine Versündigung an einem fremden und dem eigenen Herzen.“
„So haben Sie wirklich niemals eine derartige Bekanntschaft gehabt?“
„Nie“, antwortete er ernst. „Unter einer Liaison verstehe ich eine vorübergehende Liebelei. Eine Dame, welche Liaisons gehabt hat, gleicht einem Schmetterling mit beschädigten Stellen.“
„Sie haben recht!“
„Nicht wahr! Der Mensch darf nur eine einzige Liebe haben; aber diese muß so groß und mächtig sein, daß sie sein ganzes Denken und Fühlen, sein ganzes Leben ausfüllt.“
„Wären Sie einer solchen Liebe fähig?“
„Ja.“
„Aber gefühlt haben Sie sie noch nicht?“
„Nein.“
„Meinen Sie, daß sie plötzlich über einen herfällt, oder daß sie langsam ihren Einzug in das Herz hält?“
„Je nach dem Naturell. Ich bin zum Beispiel überzeugt, daß eine solche große Liebe nie langsam, sondern nur plötzlich über Sie kommen könnte.“
„Wieder haben Sie recht. Und wie ist es bei Ihnen?“
„Ich denke, bei mir würde das Gegenteil stattfinden. Ich würde die Liebe nicht hinunterstürzen, sondern sie langsam trinken und nippen, bis der süße Rausch so ganz mein Herr geworden wäre.“
„Das geht zu langsam! Trinken Sie! Trinken Sie!“
Ihre Augen funkelten. Sie hielt ihm ihr Weinglas entgegen, um mit ihm anzustoßen. Es kam ganz fremd und eigenartig über ihn. War es der Wein oder waren es die Glutblicke aus den Augen des schönen Mädchens. Er stieß mit ihr an und antwortete:
„Ja, trinken wir!“
„Wein oder Liebe?“
„Beides!“
„Ja, richtig!“ jubelte sie. „Beides! Beides!“
Sie legte den vollen Arm auf seine Schulter, nährte ihr Gesicht dem seinigen und fragte:
„Wie denken Sie von mir? Wie gefalle ich Ihnen?“
„Bei Ihrem Anblick denke ich an die Worte des Dichters:
Füll den Pokal mit Schiraswein;
Entfessle deiner Locken Quell!“
„Soll ich ihn entfesseln?“
Ihr Atem streifte heiß seine Wange, und ihr Arm legte sich fester um seine Schulter. Er hatte sich noch nie in einer solchen Versuchung befunden. Er wußte nicht, was er antworten sollte.
„Noch nicht! Noch nicht!“ sagte er, um doch etwas zu sagen.
„Aber später doch? Gut! Wir verstehen uns. Und das ist kein Wunder. Sind wir doch Kollegen.“
„Kollegen?“ fragte er lächelnd.
„Ja. Ich bin auch Dichterin. Das heißt, ich dichte.“
„Für sich selbst oder für einen Verleger?“
„Für mich allein.“
„Hm! Das ist jedermann gestattet. Nur soll man das Nest sehr sorgfältig in acht nehmen und behüten.“
„Das Nest? Wieso? Was soll das heißen?“
„Das Wespennest der Gedichte. Man soll dieselben hübsch daheim behalten im Kasten und sie nicht hinausfliegen lassen, wo sie allerlei Unheil anrichten.“
„Oho! Glauben Sie, meine Gedichte taugen nichts?“
Er blickte ihr vergnügt in das Angesicht und fragte dabei:
„Es sind doch lyrische, nicht wahr?“
„Ja.“
„Dachte es mir. Ich glaube nicht an weibliche Schriftstellerinnen und noch weniger an weibliche Dichterinnen oder gar Lyrikerinnen.“
„Soll ich Ihnen etwa eine Probe zeigen?“
„Sehr verbunden! Danke aber!“
„Was? Sie wollen nicht?“
„Nein.“
„Welch eine Unhöflichkeit!“
„Es ist eine ebenso große Unhöflichkeit, mir ein ‚Lyrisches‘ zeigen zu wollen. Wir sind also quitt. Um Ihnen aber zu zeigen, daß ich eine Ausnahme machen kann, ersuche ich
Weitere Kostenlose Bücher