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600 Stunden aus Edwards Leben

600 Stunden aus Edwards Leben

Titel: 600 Stunden aus Edwards Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Craig Lancaster
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lautet eindeutig nein, und nach den Ereignissen von heute Morgen würde ich meinen, dass jeder vernünftige Mensch zu demselben Schluss kommen muss. Sie werden sich mit dieser Frage selbst auseinandersetzen müssen. Jedenfalls nehme ich Ihnen Ihre Versuche, mir juristischen Rat angedeihen zu lassen, ausgesprochen übel. Sollte ich die Unterstützung eines Anwalts benötigen, können Sie sicher sein, dass ich jemanden wähle, der kein Speichellecker eines frustrierten, boshaften und gewalttätigen Mannes ist.
    Mit anderen Worten: Ich werde nicht Sie wählen.
    Obwohl ich gern schreiben würde, dass dieser Brief unserem weiteren Kontakt ein Ende setzt, weiß ich doch, dass nicht ich das entscheiden kann, sondern nur mein Vater. Ich hoffe sehr, dass wir keine derartigen Vorkommnisse mehr erleben werden, aber Hoffnung ist kein verlässliches Gefühl. Ich werde auf die Tatsachen warten, die sich ergeben.
    So sage ich Ihnen nun Auf Wiedersehen, bis ich Ihnen Auf Nimmerwiedersehen sagen kann.
    Mit freundlichen Grüßen,
    Edward Stanton

DONNERSTAG, 30. OKTOBER
    Meine Aufwachzeit am 303. Tag des Jahres (weil es ein Schaltjahr ist) lautet wegen eines frühen Telefonanrufs 7:14 Uhr.
    »Hallo?«
    »Edward?« Es ist meine Mutter. Meine Mutter hat mich noch nie um diese Uhrzeit angerufen.
    »Mutter?«
    »Edward«, sagt sie, und ich kann hören, dass ihre Stimme zittert, »du musst ins
St. V’s
kommen. Mit deinem Vater ist etwas passiert.«
    »Was?«
    »Komm einfach, Edward. In die Notaufnahme des
St. V’s
.« Sie hängt ein.
    Meine Daten müssen warten.

    »St. V’s«
nennen die Leute von Billings das Krankenhaus
St. Vincent
. Es gibt zwei große Krankenhäuser in Billings, das
St. V’s
und die
Billings Clinic
. Sie liegen nebeneinander im Krankenhausstadtteil in der Innenstadt. Da Billings die größte Stadt im Umkreis von 800 Kilometern ist, kommen viele der Menschen aus Montana und Nord-Wyoming zur Behandlung hierher. Wenn man etwas sehr Ernstes hat, muss man vielleicht nach Denver oder Salt Lake City oder Seattle fahren, aber die meisten Sachen können in den Krankenhäusern von Billings behandelt werden. Mein Vater liegt im
St. V’s
, also hat er vielleicht nichts sehr Ernstes. Andererseits liegt er in der Notaufnahme, also ist es vielleicht doch ernst. Ich versuche, auf der Fahrt nicht weiter darüber nachzudenken, da es nur Vermutungen sind.Ich bevorzuge Tatsachen.
    Ich war schnell. Nachdem meine Mutter aufgelegt hatte, habe ich eine Jeans angezogen. Mein R.E.M.-T-Shirt der 1999er
Up Tour
kann ich zum Krankenhaus anbehalten. Um 7:29 Uhr fahre ich auf den Parkplatz des
St. V’s
und gehe über die Straße zur Notaufnahme. Ich trage keinen Mantel. Es ist kalt.
    Meine Mutter sitzt im Wartebereich. Ebenso Jay L. Lamb. Ich hätte nicht gedacht, dass ich ihn so bald wiedersehe.
    »Edward, komm, setz dich«, sagt meine Mutter, als sie mich sieht. Sie ist auf furchterregende Weise ruhig, aber ich sehe, dass sie geweint hat. Ihr Make-up ist von Tränen verschmiert.
    Ich setze mich neben meine Mutter.
    Jay L. Lamb nickt mir zu, doch ich erwidere seinen Gruß nicht.
    »Edward, dein Vater ist heute Morgen zusammengebrochen«, sagt meine Mutter.
    »Ich verstehe nicht.«
    »Er ist zum Golfplatz gefahren und dort zusammengebrochen.«
    »Er wollte Golf spielen? Bei dieser Kälte?«
    »Das ist jetzt nicht wichtig, Edward. Er ist zusammengebrochen. Jemand hat ihn gesehen. Sie haben Hilfe gerufen. Er ist …« Meine Mutter fängt wieder an zu weinen.
    »Er ist da drin«, sagt Jay L. Lamb. »Sie tun, was sie können.«
    Er legt meiner Mutter einen Arm um die Schultern, und sie lehnt sich schluchzend gegen seine Brust.
    Ich falte die Hände, beuge mich vor und starre auf den Boden. Und warte.

    Das Warten dauert nicht lange, was die Zeit betrifft, aber es kommt mir endlos vor. Wieder einmal fällt mir auf, dass Zeit eine Illusion sein kann, obwohl sie gleichzeitig eine Tatsache ist. Meine Mutter hört nicht auf zu weinen, und Jay L. Lamb hört nicht auf, sie zu trösten. »Das sind gute Leute da drin«, sagt er. Sie weint noch mehr. Ich halte den Blick gesenkt.
    Um 7:58 Uhr kommt der Notfallarzt zu uns, ein jung aussehender Mann mit dichten, zurückgekämmten schwarzen Haaren und runder Nickelbrille. Er macht ein finsteres Gesicht. Neben mir beginnt meine Mutter zu zittern.
    »Mrs Stanton, meine Herren«, sagt der Arzt. »Es tut mir sehr leid. Wir haben alles getan, was in unserer Macht stand, aber wir konnten ihn nicht

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