600 Stunden aus Edwards Leben
wiederbeleben.«
Meine Mutter wimmert. Jay L. Lamb nimmt sie fest in den Arm.
»Wie es aussieht, hat er einen schweren Herzinfarkt erlitten. Das Labor wird uns mehr dazu sagen. Es tut mir sehr leid.«
»Er ist tot?« Die Stimme gehört mir, und dennoch scheint sie von außen zu kommen.
»Ja. Es tut mir leid.«
Meine Mutter wimmert erneut und schluchzt: »Nein, nein, nein, nein.«
Der junge Arzt streckt die Hand aus und ergreift ihre.
Meine Mutter schnieft und schluchzt und wendet den Kopf von Jay L. Lambs Brust, um den Arzt zu fixieren. »Ich will ihn sehen.«
Die Leiche meines Vaters liegt in einem leeren Zimmer der Notaufnahme. Obwohl ich ihn erkenne, ist er es nicht wirklich. Die Farbe und das Leuchten sind aus seinem Gesicht gewichen, ebenso seine Ausdruckskraft. Er ist bleich. Sein Oberkörper, befreit von dem ständig präsenten Golfshirt, zeigt die Spuren der Lebensrettungsversuche – die Druckstellen von der Reanimation, die Abdrücke der Elektroden des Defibrillators. Sein sonst so sorgsam frisiertes grau meliertes Haar ist wild zerzaust und nass. Im Leben war mein Vater von Gesprächen, Düften und Bewegungen umgeben. Hier sagt niemand ein Wort, es riecht nach Reinigungsmittel und wir stehen still.
Er ist tot.
Meine Mutter, gefasster als noch vor wenigen Minuten, tritt an den Rand der Bahre, streichelt das Gesicht meines Vaters und beugt sich dann hinunter, um seine Wange zu küssen.
»Jay«, sagt sie leise, »wirst du dich um alles kümmern?«
»Das werde ich. Soll ich dich nach Hause fahren?«
»Nein«, sage ich, »das mache ich.«
Während der Fahrt über die 27th Street die Rimrocks hinauf spricht meine Mutter kaum ein Wort. Als wir oben auf die gerade Zufahrtsstraße zum Haus meiner Eltern – meiner Mutter – abbiegen, sagt sie: »Ich kann es nicht glauben.«
»Ich auch nicht.«
»Edward, dein Vater ist tot.«
»Ich weiß.«
Sie sieht durch das Fenster auf die vorbeiziehenden Felder. Hier oben liegt stellenweise noch Schnee von gestern auf dem Boden.
»Ich weiß nicht, was ich tun soll«, sagt sie.
Das Haus, das mir für zwei Leute immer schon lächerlich groß vorkam, wirkt ohne meinen Vater darin riesig. Ich hatte meine Probleme mit ihm – besonders das letzte Mal, als ich ihn sah, was ich jetzt bedaure ‐, aber ich habe seine übergroße Persönlichkeit geliebt und die Art, wie er einen Raum mit Lachen und mit seiner Stimme füllen konnte.
Jetzt gibt es viel leeren Raum in diesem Haus, und ich weiß nicht, wer ihn füllen soll. Nicht meine Mutter. Und ganz bestimmt nicht ich.
»Möchtest du Frühstück?«, fragt meine Mutter.
»Mutter, du musst dich jetzt nicht in die Küche stellen.«
»Das würde ich aber gern.«
Ich nicke. »Frühstück wäre gut.«
Meine Mutter geht in die Küche und erzählt mir, was heute Morgen passiert ist. Mein Vater, der dachte, er könnte ein paar Eimer Probebälle schlagen, bevor der Regen wieder einsetzt, verließ das Haus gegen 6:00 Uhr früh und fuhr den Berg hinunter zum
Yegen Golf Club
in Westend.
Er hat es nicht einmal vom Parkplatz geschafft, sondern ist direkt neben seinem Wagen kollabiert. Jemand rief 911, der Rettungswagen kam, die Aufsicht des Golfclubs rief meine Mutter an und sie dann Jay L. Lamb, der sie abholte und ins
St. V’s
brachte. Von dort aus rief sie mich an. Binnen zweier Stunden wandelte mein Vater sich vom eifrigen Golfspieler zur Leiche.
Ich bin wie betäubt bei diesem Gedanken.
Meine Mutter stellt einen Teller umgedrehte Spiegeleier mit Speck und Toast auf die Frühstückstheke und winkt mich zu sich. Ihr Essen schmeckt hervorragend, wie immer. Ich stochere darin herum. Meine Mutter spricht stockend.
»Er hat uns geliebt.«
Ich nicke.
»Vor allem dich hat er geliebt.«
Das ist nicht wahr, aber jetzt scheint mir nicht der richtige Zeitpunkt, sie zu korrigieren. Als mein Grandpa Sid, der viele Jahre krank war, im Jahr 2003 starb und meine Grandma Mabel ihm nur drei Wochen später folgte, weiß ich noch, dass mein Vater gute Eigenschaften an ihnen lobte, die sie nie besessen hatten. Dr. Buckley sagte damals, das sei Teil seines Trauerprozesses, eine Art »Glorifizierung«, um auf die bestmögliche Art an sie zu denken. Dr. Buckley versicherte mir, dass mein Vater, wenn er sich ausreichend mit dem Tod seiner Eltern auseinandergesetzt hätte, auch ihre anderen Eigenschaften und Fehler annehmen werde. »Wir alle haben beides in uns«, sagte sie.
Wie sich herausstellte, sollte sie Recht behalten.
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