616 - Die Hoelle ist ueberall
keinen Espresso. Nach einer nicht allzu langen Unterhaltung machte Audrey sich auf den Heimweg. Sie schaltete das Radio in ihrem Mercedes CLK ein, achtete jedoch nicht auf den Mu-siksender, den sie eingestellt hatte. Ihr Kopf war mit der noch frischen Erinnerung an ihr Gespräch beschäftigt. Joseph hatte sie nach den drei Lügen gefragt, die Daniel erwähnt hatte. »Wie lauten die drei Lügen, Audrey?«, hatte der alte Gärtner gefragt, als er sich plötzlich in jemand anderen verwandelt zu haben schien. Leicht verwirrt gab Audrey Joseph die einzige Erklärung, die ihr auf die Schnelle einfiel: »In der Harvard University gibt es eine Statue, auf der steht: ›John Harvard, Gründer, 1638.‹ Die heißt bei allen an der Uni ›Die Statue der drei Lügen‹, weil die Statue weder John Harvard darstellt, noch er die Universität, die seinen Namen trägt, gegründet hat und Harvard auch nicht 1638 gegründet wurde.«
»Im Ernst? Dann taugt diese Statue ja wohl nichts.«
»Na ja. Angeblich bringt es Glück, wenn man ihre Füße berührt. Leo … ein Studienkollege von mir hat das jedes Mal gemacht, wenn er daran vorbeikam.«
»Und hat die Statue ihm Glück gebracht?«
»Nein«, erwiderte Audrey und fügte flüsternd hinzu: »Sie hat in jener Nacht keinem von uns Glück gebracht.«
»Wie bitte?«
»Ich meinte, nein, sie hat ihm kein Glück gebracht. Mein Freund Leo ist vor ein paar Jahren an einem Herzinfarkt gestorben.«
»Oje, das tut mir leid.«
»So etwas passiert eben …«
»Mal angenommen, Daniel hat mit der Frage nach den drei Lügen diese Statue gemeint, was sollte das dann? Ich meine, warum hat er ausgerechnet danach gefragt?«
»Wahrscheinlich wollte er meine Aufmerksamkeit erregen. In solchen Fällen wird der Patient manchmal …«, Audrey suchte nach dem passenden Wort, »zu einer Art Exhibitio-nist.«
»Sie meinen, er wollte Sie beeindrucken?«
»So ungefähr.«
»Aha. Aber finden Sie nicht, dass das ein bisschen zu kompliziert für Daniel ist? Erstens hätte er wissen müssen, dass Sie in Harvard studiert haben, zweitens hätte er die Geschichte dieser ›Statue der drei Lügen‹ kennen müssen, und außerdem hätte er die beiden Dinge miteinander in Verbindung bringen müssen, um Ihnen diese Frage stellen zu können. Ich weiß nicht … Für mich passt das nicht zusammen.«
»Solche Fälle sind komplizierter, als sie aussehen. Es kommt vor, dass manche der Persönlichkeiten eines Patienten mit multipler Persönlichkeitsstörung Fähigkeiten haben, die seine anderen Persönlichkeiten nicht haben. Manchmal unterscheiden sie sich sogar körperlich. Ich hatte einmal den Fall einer Frau, die in einer ihrer Persönlichkeiten normal sehen konnte, in einer anderen aber kurzsichtig war. Der menschliche Geist ist ein Rätsel, Mr Nolan. Das ist nicht nur ein schö-ner Satz. Der menschliche Geist ist wirklich ein Rätsel. Daniel kann von einer der Nonnen gehört haben, dass ich in Harvard studiert habe, und es ist nicht so unwahrscheinlich, dass er die Geschichte von der Statue kennt. Schließlich lebt er schon sein ganzes Leben lang in Boston. Und die Verbindung zwischen dem einen und dem anderen hat vielleicht jener andere Daniel hergestellt.«
Diese letzte Erklärung überzeugte Joseph. Beinahe hätte sie sogar Audrey selbst überzeugt, wäre da nicht Daniels zweite Bemerkung gewesen, an die Joseph offenbar nicht mehr dach-te: »Aber es sind gar nicht drei Lügen, sondern vier, nicht wahr, Audrey?« Und das stimmte, ja, denn sie verheimlichte eine Lüge. Das Geheimnis dessen, was eines Nachts in Harvard geschehen war, just an der Statue der drei Lügen …
7
Rom
Die Gesellschaft Jesu hatte sich in ihren politischen Beziehungen zu verschiedenen Staaten und zum Heiligen Stuhl selbst stets auf einem schmalen Grat bewegt. Im Verlauf seiner Geschichte war der Orden aus vielen Ländern vertrieben, war abgelehnt und bekämpft worden. Seine Mitglieder galten aufgrund ihrer progressiven Haltung in Regionen wie Südamerika als linksgerichtet, dabei waren sie für viele andere im Gegenteil traditionelle Diener Gottes. Ihr Gelübde schloss die direkte Unterordnung unter den Papst ein. Dennoch hatten viele Päpste sie geringgeschätzt. Jesuiten absolvierten eine strenge zehnjährige Ausbildung. Sie studierten Philosophie und Theologie, aber auch Naturwissenschaften, und standen heterodoxen Lehren wie der Parapsychologie, der Ufologie oder dem Okkultismus gegenüber stets aufgeschlossen gegen-über.
Deshalb
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