65 - Der verlorene Sohn 06 - Das letzte Duell
letztere erblickte zu seinem freudigen Schreck – die Geliebte. Ihr Bruder hatte sie zur Bahn begleitet. Schon hob sie das Füßchen, um einzusteigen, da fiel ihr Auge auf den Offizier. Sofort wich sie wieder zurück.
„Nein, nein! Hier herein nicht!“ rief sie.
„Warum denn nicht?“ fragte der Doktor.
„Später davon! Ein anderes Coupé.“
„Dann gibt es aber keins für Nichtraucher!“
„Mag sein. Bitte, weiter!“
Sie verschwanden. Die Tür wurde wieder geschlossen, und der Zug setzte sich nach kurzer Zeit in Bewegung.
Hagenau legte sich höchst verstimmt in die Ecke zurück.
„Verflucht!“ brummte er. „Wohin fährt sie? Warum wollte sie nicht zu mir? Wegen der Szene heute am Vormittage? Jedenfalls. Ich werde aufpassen.“
Er blickte an jeder Station zum Fenster hinaus, sah sie aber nicht. Endlich mußte er selbst in Wildau aussteigen, und nun erinnerte er sich, daß sie diese Station ja angegeben hatte. Sie stieg auch wirklich aus und eilte, ohne ihn anzublicken, in das Stationsgebäude.
Er folgte langsam nach. Sie saß im Wartezimmer, und er nahm ebenda Platz, wagte aber nicht, sie anzureden.
Von hier aus gab es Postverbindung bis Reitzenhain. Er nahm sich einen Fahrschein und bemerkte zu seiner großen Freude, daß sie das gleiche tat. Man hatte zu warten. Trotzdem gab es keinen zweiten Passagier, und als dann das Zeichen zur Abfahrt gegeben wurde, nahmen sie ganz allein im Wagen Platz.
Sie hatte den Schleier vor das Gesicht gezogen, und er legte sich möglichst weit in seine Ecke hinein, um ihr ja nicht prätentiös zu erscheinen. Es herrschte tiefe Stille. Sie schien zu schlafen, denn sie bewegte sich nicht. Er sah die kleinen behandschuhten Händchen und dachte im stillen:
„Daß die Tochter eines Flickschusters so zart gebaut sein kann, ist doch sonderbar! Und das Füßchen dort! Himmelsackerment! Ob sie wohl schläft? Ich werde sie anreden!“
Er nahm sich fest vor, dies zu tun, aber es wollte ihm nicht so leicht werden. Er sann und sann, was er sagen werde, brachte es aber zu keinem Resultat.
Sie kamen durch ein Dorf. Der Postillion hielt vor dem Gasthaus an und fragte:
„Wollen die Herrschaften vielleicht einmal austeigen?“
„Haben wir denn Zeit?“ fragte Hagenau.
„Zu einem Glas Bier allemal.“
„Schön! Trinken Sie auch eins!“
Und jetzt nahm er seinen ganzen Mut zusammen, um Hilda zu fragen:
„Wünscht Fräulein vielleicht auch etwas?“
„Ich danke“, antwortete sie.
Somit waren sie wieder fertig, und als das Bier getrunken war, ging es so schweigsam weiter wie vorher.
Hagenau kannte die Gegend und den Weg. Bei jedem Dorf und jedem Ort, durch welches sie kamen, besorgte er, daß die Reisende aussteigen werde. Die Tour war bereits über die Hälfte zurückgelegt, und noch hatte er nicht den Versuch gemacht, sie zu einem Gespräch zu bringen. Eine bessere Gelegenheit als heute konnte es gar nicht geben. Darum nahm er sich endlich vor, anzufangen.
„Fräulein!“ sagte er.
Sie antwortete nicht.
„Fräulein!“
Jetzt drehte sie ihm das Köpfchen zu.
„Darf ich fragen, wohin Sie fahren?“
„Nach Reitzenhain“, antwortete sie.
„Ich auch!“
Jetzt fiel ihm nichts weiter ein. Er gab sich die größte Mühe, etwas ausfindig zu machen, vergebens. Sollte er etwa vom Wetter anfangen? Damit hätte er sich blamiert. Endlich kam ihm ein Gedanke. Er freute sich darüber, als ob er Amerika entdeckt habe. Einer anderen gegenüber hätte er diesen Gedanken für ganz selbstverständlich befunden.
„Bleiben Sie lange dort?“ fragte er.
„Einige Wochen.“
„Ah, das ist herrlich!“
Er sagte das mit Begeisterung, zog sich aber sofort in sich selbst zurück, da er befürchtete, bereits zuviel gesagt zu haben. Erst als er bemerkte, daß in zehn Minuten das Ziel erreicht sein werde, nahm er sich zu einer weiteren Frage zusammen:
„Sie haben also ausgelernt?“
„Ausgelernt?“ klang es ihm entgegen. „Bitte, in welcher Beziehung meinen Sie, mein Herr?“
„Die Küche meine ich, die Küche.“
„Ich verstehe Sie nicht.“
„Nun, Sie konnten bisher nicht kochen?“
„Nicht kochen? Wer hat Ihnen das gesagt?“
„Ich erfuhr es so nebenbei.“
„Von wem?“
„Von dem Kellner im Hotel Union.“
„Der sagte, ich könnte nicht kochen?“
„Er sagte das nicht direkt, sondern er teilte mir mit, daß Sie das Kochen im Hotel lernten.“
Er konnte das Gesicht durch den Schleier nicht deutlich sehen, aber es klang ihm ein helles, lustiges
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