66095: Thriller (German Edition)
bedrohen, als hätte sich der Fels ringsum tatsächlich in eine lebendige, gefährliche Kraft verwandelt. Ihr schoss der Gedanke durch den Kopf, dass sie und ihr Vater schleunigst den Rückweg antreten sollten.
Sie blickte zu ihrem Vater, der mit größter Leichtigkeit seinen Weg fortsetzte, und schüttelte die dunklen Vorahnungen ab. Wahrscheinlich hatte sie letzte Nacht einfach nicht genug Schlaf abgekriegt, weil die Probleme mit ihrer Mutter und ihrer ganzen Familie ihr so zu schaffen machten.
Ihr Vater hatte nun den Geröllhaufen erreicht und begann mit dem Anstieg. Einen Augenblick zögerte sie, dann folgte sie ihm. Der Haufen war 15 Meter hoch, und sie brauchte drei Minuten, bis sie oben angelangt war. Dann folgte sie ihrem Vater den steilen Hang auf der anderen Seite hinunter, suchte im Schein ihrer Lampe ihren Weg über die Steine, die sich wie Puzzleteile aneinander fügten, aber unter ihren Schritten ins Rutschen gerieten. Am Fuß des Abhangs sah Cricket eine schiefe, V-förmige Spalte im Fels klaffen. Die Enden einer Aluminiumleiter ragten aus dem Schacht am Boden des V.
Als sie vor dem Schacht standen, meinte ihr Vater: »Damen haben Vortritt.«
Cricket griff nach der obersten Sprosse, suchte mit den Füßen Halt und begann mit sicherem Tritt und höchster Konzentration den Abstieg. Die Felsschicht, die sie überwand, war die Decke des darunter liegenden Höhlengangs. Am unteren Ende der Leiter wuchsen Gebilde aus dem Höhlenboden, die an schneeüberzuckerte Weihnachtsbäume erinnerten – Dutzende von Stalagmiten, die mit weiß schimmernden Gipskristallen bedeckt waren. Cricket hatte diese speläologischen Phänomene schon hundertmal gesehen, doch sie staunte immer noch darüber. Unten angelangt, rief sie durch den Kamin hinauf: »Frei!«
Knapp eine Minute später hatte auch ihr Vater das Ende der Leiter erreicht. »Die anderen werden auch gleich hier sein«, meinte er. Cricket setzte sich neben einen der überzuckerten Weihnachtsbäume.
»Auch nach all den Jahren liebe ich das alles immer noch wahnsinnig«, sagte Tom. »Der Mumm, das Abenteuer, die Herausforderung, die Schönheit. Aber weißt du, was ich am allermeisten liebe?«
Cricket schüttelte den Kopf. Ihr Vater machte das immer so, er stellte Fragen und beantwortete sie dann selber, bevor man überhaupt zu Wort kam.
»Die Wissenschaft und die Möglichkeit neuer Entdeckungen«, erklärte er. »Dass man der Erste ist, Crick. Dass man …«
Plötzlich drang ein fürchterliches Geräusch aus dem Kamin über ihren Köpfen zu ihnen. Aus weiter Ferne, von irgendwoher jenseits des Vorraums und des Tors, hörte Cricket das Echo von Andy Swearingens Schrei und dann das unverkennbare Dröhnen eines Schusses.
8.55 Uhr
Südlich von Hermes Four Corners, Kentucky
Ungefähr 1000 Meter unterhalb des Orpheus-Eingangs lenkte Boulter den Helikopter in 30 Metern Höhe über den Furnace; er folgte einer schmalen Bergstraße, die von Hermes Four Corners nach Süden führte. Finnerty und seine beiden Deputys suchten mit Ferngläsern nach Spuren der flüchtigen Häftlinge.
Als sie über das Südufer flogen, ließ der Marshall sein Fernglas sinken, rückte das Mikrophon seines Kopfhörers zurecht und sagte: »Noch zwei Minuten, dann suchen wir die Hütte von Gregors Großvater am See.«
»Nicht nötig«, rief Sanchez über das Dröhnen der Rotorblätter hinweg. »Ich habe den Lieferwagen. Dort drüben!«
Finnerty setzte das Fernglas wieder an und entdeckte den Wagen, halb verborgen unter dem Gestrüpp am Eingang der Schlucht. Vor dem Wagen sah er abgebrochene Zweige, offenbar war hier jemand durchgegangen.
»Sie steigen da rauf«, rief Finnerty. »Bring uns da hoch. Versucht, ob ihr sie sehen könnt.«
700 Meter weiter oben griff sich Billy Lyons an die Stirn und stöhnte, als er den jungen Mann sah, der im Höhleneingang lag. Blut lief ihm aus Mund und Nase. Seine Augen waren verschleiert und leblos.
»Verdammt«, murmelte Lyons. »Schon wieder ein Toter.«
Seit LaValle Cox auf dem Parkplatz vor dem Waschsalon tot zusammengebrochen war, hatte sich Lyons geschworen, dass keine Unbeteiligten mehr sterben durften. Aber es war alles so schnell gegangen, dass er nicht hatte eingreifen können. Lyons und die Häftlinge waren unter Gregors Führung die mit Strauchwerk bewachsene Schlucht hinaufgeklettert. Sie waren zu einer Stufe im steilen Hang gelangt und mussten den Wissenschaftler, der schweißgebadet und kreidebleich nach Luft rang, nach oben auf
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