66095: Thriller (German Edition)
auf den Fersen. Kelly und Lyons bildeten die Nachhut. Das Licht der Stirnlampen drang in die Dunkelheit, fiel auf die Decke hoch oben, von der Wasser tropfte, und enthüllte die 40 Meter entfernte Klippe, wo die schräg abfallende Ebene endete und sich im Dunkeln verlor. Tom wurde etwas langsamer und querte den Hang. Alle paar Minuten drehte er sich um und nickte ihr aufmunternd zu. Cricket schenkte ihm ein grimmiges Lächeln. Alles Negative, was sie in den vergangenen Wochen über ihn gedacht hatte, war wie weggeblasen. Jetzt suchte sie so oft wie möglich Blickkontakt mit ihm.
Als sie ihrem Vater den Hang hinunter folgte, fiel ihr das grün blinkende Signallämpchen ihres Peilsenders in ihrem Schleifsack wieder ein. An der Oberfläche gab es Leute, die ihren Weg verfolgten. Bestimmt wurde schon etwas zu ihrer Rettung unternommen. Bestimmt war schon jemand unterwegs. Und wer waren diese Männer eigentlich? Aus Zeitungsberichten über das Artemis-Projekt wusste sie, dass Umweltaktivisten, die gegen den Erzabbau auf dem Mond waren, Drohungen ausgesprochen hatten. Waren diese Leute Terroristen? Nein, das konnte sie sich nicht vorstellen. Sie erwähnten immer wieder einen Stein, der anscheinend irgendwo in der Höhle verborgen lag.
»Pass jetzt auf, Cricket«, mahnte Tom und riss sie aus ihren Gedanken. Sie hatten auf dem 30 Grad abfallenden Hang eine Stelle erreicht, die mit Dutzenden von Felsplatten bedeckt war. Die meisten dieser Platten waren etwa so groß wie das Tor einer mittelalterlichen Burg und lagen kreuz und quer übereinander.
Cricket beobachtete, wie ihr Vater vorsichtig auf die Felsplatten kletterte und auf den Rand des Hangs zusteuerte. Etwa zehn Meter vor der Kante blieb er an einer flachen Stelle stehen. Gregor ging als Nächster. Cricket wartete, bis Gregor neben ihrem Vater angelangt war, dann setzte sie sich in Bewegung. Sie kletterte auf die erste Felsplatte, dann hüpfte sie auf eine zweite, die unter ihrem Gewicht schaukelte. In geduckter Haltung fand sie ihr Gleichgewicht wieder und schluckte ihre Angst hinunter.
Cricket hörte, wie hinter ihr jemand auf die erste Platte stieg. Als sie sich umdrehte, sah sie Mann, der sie lüstern anstarrte. »Hey«, rief sie. »Einer nach dem andern. Warten Sie, bis ich unten bin.«
»Vergiss es«, sagte Mann, machte noch einen Schritt, verlor das Gleichgewicht und taumelte vorwärts. Sein Stiefel schlug hart gegen die Felsplatte, auf der Cricket kauerte. Ein Keil, der in den letzten zehntausend Jahren die Platte an Ort und Stelle gehalten hatte, löste sich. Cricket fiel auf den Rücken. Quietschend, kreischend und scheppernd wie ein aus der Bahn geworfener Rennschlitten geriet die Platte ins Rutschen. Sie richtete sich auf und verspürte einen Brechreiz. Sie schlitterte auf den Rand des Abgrunds zu.
»Daddy!«, schrie sie.
Tom stieß Gregor beiseite und machte mit ausgestreckten Armen einen Satz auf Cricket zu. Als die Vorderkante der Felsplatte schon über den Rand ragte, warf sich Cricket auf ihn und streckte die Hand aus. Einen qualvollen Augenblick lang war Tom überzeugt, dass es um seine Tochter geschehen war. Dann umschlossen seine Finger die ihren. Die Felsplatte donnerte in die Tiefe und schlug 20 Meter weiter unten auf.
Cricket hing am Rand der Klippe an seiner Hand. »Lass mich nicht los!«, rief sie.
»Niemals«, erwiderte Tom. Mit der anderen Hand umfasste er ihr Handgelenk und zog sie auf den Hang hinauf. Er sah sie an, war einen Augenblick lang verblüfft, wie sehr sie ihrer Mutter ähnelte, dann schloss er sie in die Arme.
»Mein Gott, das war knapp«, flüsterte er. »Ich will dich nicht verlieren. Niemals.«
Tom musste seine ganze Kraft mobilisieren, um die Hysterie niederzukämpfen, die ihn zu lähmen drohte. Seine Gedanken schossen wirr durcheinander und fanden schließlich seltsamerweise zu einer Erinnerung an gelbe Butterblumen auf einer nachmittäglichen Wiese im Frühsommer vor langer, langer Zeit. Cricket musste damals vier Jahre alt gewesen sein und lief barfuß über die Blumenwiese. Whitney jagte lachend hinter ihr her. Das rotblonde Haar der beiden leuchtete in der Junisonne. Whitney holte Cricket ein, legte sie ins Gras und kitzelte sie mit einer Blume unterm Kinn. Für eine Weile ließ sich Tom von dieser Erinnerung und dem Gefühl, Cricket in den Armen zu halten, davon überzeugen, dass alles gut ausgehen würde. Aber dann kam ihm der verstörende Gedanke, dass er seine Frau vielleicht niemals wieder sehen
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