66095: Thriller (German Edition)
ihrem Ärmel zu zupfen, aber sie durfte sich nicht gehen lassen. Nicht jetzt. Nicht wenn das Leben ihres Kindes auf dem Spiel stand. Nicht wenn es um das Leben ihres Mannes, um die Zukunft ihrer Familie ging.
Sie blickte hoch und sah Finnerty an. »Die bekannten Eingänge zu bewachen reicht möglicherweise nicht aus, Marshall«, sagte sie. »Es könnte mehr als vier Zugänge zur Höhle geben.«
»Wie viele?«
»Ich weiß es nicht. Aber Tom war überzeugt, dass wir nicht alle Eingänge gefunden hatten und sie vielleicht auch niemals finden würden. Oberhalb des Labyrinths erstreckt sich ein großes Gebiet, an die 650 Quadratkilometer. Die Hügelketten sind so steil und die Schluchten dazwischen so mit Ranken und Dornengestrüpp überwuchert, dass er meinte, es könnte Dutzende von Zugängen geben, von denen wir nichts wissen.«
»Was würden Sie an meiner Stelle tun?«, fragte Finnerty. »Um Tom und Cricket zu retten und diese Männer wieder einzufangen?«
Whitney schluckte schwer. Wie gelähmt vor Schreck über das, was sie nun sagen würde, irrte ihr Blick durch das Zelt. »Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich reingehen«, sagte sie mit zittriger Stimme. »Ich würde reingehen, diese Dreckskerle in einen Hinterhalt führen und meine Familie retten, bevor es zu spät ist.«
13.30 Uhr
Jenkins-Kamm
Labyrinthhöhle
Während der nächsten sechs Stunden rieb sich Tom immer wieder die schmerzenden Bauchmuskeln, während er die Häftlinge und Cricket durch trockene unterirdische Canyons langsam Richtung Westen führte. Ständig blickte er sich besorgt nach Cricket um. Seine Gedanken wurden nur noch von dem Wunsch beherrscht, Cricket gesund und wohlbehalten aus dieser Höhle herauszuführen. Das hatte er Whitney versprochen. Wenigstens das war er ihr schuldig. Sie würde es nicht verkraften, wenn Cricket etwas zustieße. Wie es ihr jetzt wohl ging? Bestimmt wusste sie es inzwischen, und er hoffte, dass die Nachricht sie nicht wieder völlig aus der Bahn warf.
Am frühen Abend kamen sie zu einem etwa 200 Meter langen und 50 Meter breiten Höhlenraum. Die Decke war zwölf Meter hoch und glatt. Die Wände waren einförmig grau und der Boden mit Tausenden von abgeflachten Felsbrocken bedeckt. Auf den Steinen lag eine dicke Schicht getrockneter Fledermausdung, der hier seit Jahrtausenden anfiel und einen scharfen Geruch verströmte. Auf dem schlüpfrigen Untergrund konnte man sich leicht den Knöchel verstauchen, wenn man nicht aufpasste. Minutenlang wurde der Höhlenwind von den Flüchen der Häftlinge und dem Klappern der Steine unter ihren Füßen übertönt.
Schließlich ließen sie die losen Felsbrocken hinter sich und machten vor einem gewaltigen Tropfsteingebilde Rast, das einem Wasserfall glich. Einzelne Faltenwürfe dieser versteinerten Kaskade waren matt weiß, aber die meisten wiesen einen rötlichen oder bläulichen Grauton auf, dem der Ort seinen Namen verdankte: Patrioten-Fälle.
Cricket kam auf Tom zu. Erleichtert stellte er fest, dass die Anstrengungen des langen Marsches ihr kaum zugesetzt hatten. Die Geiselnehmer dagegen, die mit Staub und Schweiß bedeckt waren, wirkten erschöpft. Mann, Kelly und Lyons kämpften sich mühsam voran und versuchten, sich nicht noch mehr Schrammen zuzuziehen, als sie ohnehin schon hatten. Eins zu null für uns, dachte Tom. Man brauchte eine gewisse Routine, um sich auf diesem steinigen Gelände geschickt zu bewegen, und keiner der Männer besaß sie.
Bis auf Gregor. Wenn einer von ihnen schon Höhlen von innen gesehen hatte, dann dieser körperlich schwer angeschlagene Albino. Trotz seines kränklichen Aussehens bewegte er sich ökonomisch und ausgewogen. Er erkundete mit seiner Stirnlampe den Weg, bevor er den Fuß aufsetzte. Auch wie er die Hände benutzte, war wohl überlegt. Er kroch nie auf allen vieren, wenn man auch gebückt vorankam, und er bückte sich nicht, wenn er auch aufrecht gehen konnte.
Etwas aber interessierte Tom noch mehr: Gregor vermittelte den Eindruck, als würde seine ganze Persönlichkeit wie Ebbe und Flut von der Anziehungskraft des Mondes beherrscht. Zuweilen barst er geradezu vor nervöser Energie. Dann wieder wurde er müde und mürrisch, als stünde er kurz vor dem Zusammenbruch. Stündlich maß Kelly Gregors Blutdruck, Körpertemperatur und Pulsschlag. Die Daten, die er dabei sammelte, schwankten stark. Lyons ließ Gregor Pillen schlucken, wohl um ihn körperlich wieder ins Lot zu bringen. Aber nach allem, was Tom über
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