66095: Thriller (German Edition)
würde sie töten, wenn ihr Vater versuchen sollte, sich zu wehren. Aber dann dachte sie: Ihm ist nicht in den Sinn gekommen, dass ich mich wehren könnte. Der Gedanke überraschte sie selbst, dann bekam sie Angst. Was würde passieren, wenn sie sich wehrte? Ob sie mit dem Leben davonkommen würde?
Bevor sie diesen Gedanken weiterverfolgen konnte, war ihr Vater aufgestanden und in einem düsteren Kriechgang verschwunden, der von der Westwand der Onyxgrotte wegführte. Gregor folgte Tom, und Cricket folgte dem blassen Wissenschaftler. Der enge Gang war nasskalt. Von irgendwoher drang das Echo eines Wasserfalls. Sie kroch auf allen vieren auf das Geräusch zu und versuchte, nicht zurückzufallen. Von hinten traf sie das Licht einer Stirnlampe. Während der ersten hundert Meter dachte Cricket, Lyons befände sich hinter ihr. Dann erreichten sie einen Engpass, wo Gregor warten musste, bis ihr Vater durch war.
Sie lag mit gesenktem Kopf da und betrachtete den Staub. Sie war unendlich müde und sehnte sich danach, von ihrer Mutter im Arm gehalten zu werden. Da hörte sie ein Pfeifen. Eine leise, unbeschwerte Melodie und schließlich ein Lied: »Wer bei der Arbeit pfeift, mit frischem Mut sein Tagwerk tut, schafft mehr und spart viel Zeit.«
Aus dem Gesang wurde ein bedrohliches Gelächter. Es war Mann. Er sang ein Lied aus dem Disney-Film Schneewittchen und die sieben Zwerge. Nach der ovalen Kammer, in der sie Rast gemacht hatten, war es ihm gelungen, sich hinter ihr einzuschleusen.
Gregor setzte sich wieder in Bewegung. Cricket hastete hinter ihm her und bog um die Kurve, nur weg von Mann. Aber er sang auch dann noch weiter, als sie den ersten Schacht erreichten und sie Gregor entsetzt aufstöhnen hörte.
Gregors Oberkörper ragte aus der Wand, unweit eines prismaförmigen, 10 Meter tiefen Schachts. Cricket wusste aus Erfahrung, dass die röhrenartige Vertiefung auf der rechten Seite etwa 3,5 Meter breit war. Zur Linken verlor sie sich in einer schwarzen Spalte in der Wand. Durch den Spalt sickerte Wasser. Die Seitenwände des Schachtes und der Boden tief unten waren mit abgeschrägten Felszacken gespickt, die wie nach oben weisende Schneiden riesenhafter Äxte aussahen. Das Loch trug den Namen Turbinenschaufelschacht, denn wenn man mit der Stirnlampe hinunterleuchtete, gewann man den unangenehmen Eindruck, ins Innere eines laufenden Triebwerks zu blicken.
Um diesen Schacht zu überqueren, brauchte man einen eisernen Willen, das wusste Cricket; vor allem derjenige, der voranging, musste seine ganze Willenskraft mobilisieren. Sie verrenkte sich den Kopf und sah, wie ihr Vater vorsichtig auf ein schmales Felsband zu seiner Rechten trat und sich mit einer Hand an der Decke abstützte, ohne die glitzernden Klingen tief unten aus dem Blick zu verlieren. Er lehnte sich über den Abgrund und griff nach einem Nylonseil, das vor vielen Jahren an der Decke verankert worden war. Dann legte er mit kleinen Schritten den Weg zu einem Balkon auf der anderen Seite des Schachts zurück und drehte sich um.
»Gehen Sie auf den Absatz, dann greifen Sie nach der Schlaufe«, rief er Gregor zu. Geradezu unerträglich langsam betrat Gregor das schmale Felsband. Nach qualvollem Zögern lehnte er sich vor, griff nach der Schlaufe und gelangte sicher zur gegenüberliegenden Seite.
Da spürte Cricket eine behandschuhte Hand zwischen ihren Beinen. Mann rieb seinen Daumen an ihr und sang dabei: » Bestimmt sind wir bald allein, Cricket, und dann … Summt jemand, der dir zugetan, du fängst mit ihm zu tanzen an … drum sei gescheit, es spart viel Zeit.«
Der Schrei blieb ihr in der Kehle stecken, und sie trat nach Mann, konnte sich aber nicht aus seinem Griff befreien. Sie kämpfte sich weiter vor, bis sie ihm endlich entkam und auf den Absatz gelangte. Mit tränenüberströmtem Gesicht sah sie zu ihrem Vater hinüber. Sie zitterte, konnte sich kaum am Rand des Abgrunds halten. Neben ihren Füßen tauchte Manns Kopf auf. Wieder begann er zu pfeifen.
»Er soll aufhören!«, schrie Cricket.
»Schluss damit, Arschloch!«, brüllte Tom. »Sonst schafft sie das nicht.«
Cricket sah auf Mann hinunter. Er hörte auf zu pfeifen, grinste aber anzüglich.
»Beruhig dich erst mal«, hörte sie ihren Vater sagen. »Dann greifst du nach der Schlaufe. Das hast du doch schon öfter gemacht.«
Cricket unterdrückte ihre Tränen, schluckte und nickte. Noch einmal warf sie einen Blick auf Mann, der sie höhnisch anstarrte. Da packte sie die Wut und
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