68 - Der Weg zum Glück 03 - Der Baron
sehen?“ fragte der Wurzelsepp.
„Nie.“
„Aber er sagt's doch!“
„Das ist die Stimme des Herzens. O Gott, wenn er wüßte, wer ich bin.“
„Nun, das müssen 'S ihm halt sagen!“
„Nein. Jetzt noch nicht.“
„Wann sonst?“
„Später, später.“
„Hat er Ihnen etwa nicht gefallen?“
„Wie können Sie so fragen! Ich bin unendlich glücklich und ganz entzückt von ihm. Ich bin nicht wert, einen solchen Sohn zu haben.“
„Papperlapappen! Sie sagen's ihm, daß Sie seine Muttern sind, und nehmen ihn beim Kopf. Nachher ist alles gut. Anders können 'S gar nix machen!“
„Ich fürchte mich!“
„So? Eine Muttern, die sich vor ihrem Buben fürchtet? Das ist eine Dummheit, die ich gar nicht leiden mag. Wann 'S selberst nix sagen, so sag ich's halt. Verstanden!“
„Um Gottes willen, nein!“
„Wir werden's ja sehen. Jetzunder aber wollen wir hinein in die Kirchen.“
„Gut, aber vis-à-vis der Orgel, damit ich ihn sehen kann. Zeig mir einen passenden Ort.“
Das tat er. Sie setzte sich gleich auf den ersten Platz an der Tür, um möglichst wenig aufzufallen, und lauschte mit Andacht dem Gesang und dem Orgelspiel ihres Sohns.
Als später der Pfarrer die Kanzel betrat und über die heutige Bibelstunde predigte, sprach er über die heilige Kirche als Mutter der Gläubigen. Der alte Herr sprach sehr eindringlich, da ihm selbst ein jedes seiner Worte aus dem Herzen kam. Im Laufe seiner Rede hatte er Gelegenheit, mehrere Male das Bibelwort zu wiederholen: „Kann auch eine Mutter ihr Kind vergessen?“
Wie mit glühenden Lanzenspitzen traf diese Frage das Herz der Bürgermeisterin. Der hochwürdige Herr schilderte das Mutterherz in all seiner Liebe, in all den Entbehrungen und Aufopferungen, in denen es so groß, so unvergleichlich ist. Und so sorgt auch die Kirche für die Gläubigen.
Es war, als ob ein jedes Wort eigens für die Bürgermeisterin berechnet sei. Sie befand sich in einer geistlichen Folter und fühlte Qualen, welche kaum zu ertragen waren.
Dann sprach der Redner von Gottes Güte, welche ohne Ende ist; er sprach davon, daß der Herr seine Sonne aufgehen lasse über Gute und Böse, über Gerechte und Ungerechte, und wie hingegen der Mensch den Götzen Selbstsucht anbete und sein Herz verhärte dem Nächsten und sogar den Seinen gegenüber.
Für die Bürgermeisterin bewährte sich die Stelle der heiligen Schrift: „Das Wort Gottes ist wie ein Hammer, welcher Felsen zerschmettert.“ Jedes Wort des Predigers war ein solcher Hammerschlag für sie. Welche Liebe, wieviel Liebe hatte sie ihrem Kind erwiesen? Gar keine. Hinausgestoßen hatte sie es in die weite Welt, hilflos unter fremde Menschen. Und jetzt, nachdem sie es wiedergefunden hatte, scheute sie sich, es an ihr Herz zu nehmen! Sie fühlte, daß es ihre Pflicht sei, keinen Augenblick zu zögern, und doch und doch kam dieser Schritt ihr so schwer, so unendlich schwer vor!
Am Schluß der Predigt stellte der Pfarrer die unendliche Liebe Gottes als Aufforderung hin, ihr nachzueifern und in der Liebe zu den Menschen nicht zu ermüden und zu wanken. Dann verließ er die Kanzel. Trotzdem und trotz alledem fühlte die Bürgermeisterin den Gedanken, daß sie ihren Fehler eingestehen und ihr Kind um Verzeihung anflehen müsse, schwer auf sich lasten.
Da ertönten mild und weich die Klänge der Orgel. Es war ein armes Instrument von nur vier Registern. Die Gemeinde hatte kein teureres zu beschaffen vermocht. Aber Walther war ein ausgezeichneter Orgelspieler. In seinem Vorspiel klang es wie eine Wiederholung des soeben Gehörten, wie eine innige, herzliche Mahnung zur Liebe, und dann begann der Gesang:
„Wie groß ist des Allmächtgen Güte!
Ist der ein Mensch, den sie nicht rührt,
Der mit verhärtetem Gemüte
Den Dank erstickt, der Gott gebührt?
Nein, seine Liebe zu ermessen,
Sei ewig meine größte Pflicht.
Der Herr hat mein noch nie vergessen;
Vergiß, mein Herz, auch seiner nicht!“
Wer noch niemals den Eindruck einer einfachen, ergreifenden Melodie an sich erfahren hat, der kann es auch nicht begreifen, welche Macht sie auf ein vorbereitetes Menschenherz auszuüben vermag. Und das Herz der Bürgermeisterin war vorbereitet. Was die Predigt nicht vermocht hatte, das bewirkte diese Melodie. Sie schlich sich in die Seele der angstvollen Frau ein, stimmte sie ruhig und schmeichelte ihr alle Bedenken hinweg. Und was die erste Strophe noch unbesiegt gelassen hatte, das zerschmolz unter den Klängen der zweiten:
„Und
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