68 - Der Weg zum Glück 03 - Der Baron
sehe ich ein, daß ich ein großes Opfer gebracht habe, ohne die erwartete Entschädigung dafür zu finden.“
Es legte sich ein herber, fast bitterer Zug um seinen Mund. Er blickte vor sich nieder. Sie fand nicht gleich einen neuen Anknüpfungspunkt, und so schritten sie eine Weile stumm nebeneinander her.
Sie hatten den Wald erreicht, da wo der bereits mehrere Male erwähnte Weg in denselben führte. Der Lehrer blieb stehen und sagte, nach rechts deutend:
„Dort, jenseits der Wiesen, liegt hinter den Büschen die Mühle versteckt. Bis zum Essen ist noch über eine Stunde Zeit. Bestimmen Sie, wohin wir unsere Schritte lenken wollen!“
„Ich schließe mich Ihnen an.“
„Dann also gradaus. Ich befinde mich so gern im Wald.“
„Wohl vielleicht, weil sich Ihre Heimat in einer waldigen Gegend befindet?“
„Nein. Es ist mir leider eigentlich nicht erlaubt, von einer Heimat zu sprechen.“
„Wie?“ hauchte sie. „Es hat doch ein jeder Mensch eine solche.“
„Wenn Sie den Ort, an welchem man die Jugend verlebt, Heimat nennen, ja. Ich aber verstehe unter Heimat den Ort der Geburt.“
„Und Sie kennen diesen Ort nicht?“
„Nein. Ich bin ein – Findelkind.“
„Sie Ärmster! Welch ein Verbrechen ist da an Ihnen begangen worden!“
„Ein Verbrechen keineswegs!“
„So meinen Sie also, daß Sie von Ihren Eltern verloren oder gar geraubt worden sind?“
„Ich meine nichts Bestimmtes, aber ich bin überzeugt, daß von einem Verbrechen keine Rede ist.“
Sie befanden sich jetzt mitten im Wald, durch welchen der Weg führte. Es hatte sie beide eine ganz ungewöhnliche Stimmung ergriffen. Bei der Bürgermeisterin hatte das seinen guten Grund; bei dem Lehrer aber war es weniger leicht erklärlich.
Bereits als er sie neben dem Sepp an der Kirche zum ersten Mal erblickt hatte, war dieser Anblick von einer ganz eigenartigen Wirkung auf ihn gewesen. Nur war es ganz und gar unmöglich, diese Wirkung in Worten zu beschreiben. Wie er es ihr offen gesagt hatte, war es ihm gewesen, als ob er sie bereits gesehen, als ob er schon mit ihr gesprochen habe. Und doch, nun er jetzt neben ihr herging, wußte er ganz genau, daß er ihr noch niemals begegnet sei. Und doch, der tiefe, tiefe Eindruck, welchen ihre Gestalt, ihre Stimme, ihr ganzes Wesen auf ihn machte. Besonders wirkten ihre Augen mächtig auf ihn ein. Aber warum? Er konnte sich diese Frage nicht beantworten.
Hatte er sie denn bereits einmal gesehen? Nein! Oder hatte er von ihnen geträumt?
Hatte ihr Blick im Traum auf ihm geruht, so innig und so warm, mit dem Blick der Liebe, wie Augen der Geliebten wie – Mutteraugen?
Bei diesem letzten Gedanken war es ihm, als ob ein galvanischer Strom sein Inneres durchzuckte. Er blickte schnell auf, in ihr Gesicht, in ihre Augen, so scharf und forschend, daß sie den Blick senkte.
Sie fuhr fort:
„Ist es denn nicht möglich, daß Ihre Mutter Sie mit Absicht verlassen hat?“
„Möglich ist es.“
„Dann ist es aber ein Verbrechen!“
„Nein!“
„Erlauben Sie, daß ich anderer Meinung bin!“
„So werde ich stets eine andre als Sie besitzen. Sie waren heut in der Kirche. Denken Sie an das Wort: Kann auch eine Mutter ihr Kind vergessen?“
„Vergessen wohl nie, nie, nie! Aber macht dies die Tat weniger verdammlich?“
„Kann ein Mensch über eine Tat richten, für welche er kein Verständnis hat? Die Mutterliebe ist eine große Macht, eine aus der göttlichen Liebe fließende Macht.
Wenn eine Mutter ihr Kind verläßt, so müssen gewaltige Motive vorhanden gewesen sein, und dann ist die Tat eben kein Verbrechen, sondern sie ist in den anderen Verhältnissen begründet, mögen dieselben nun rein äußerliche oder seelische sein.“
„Sie denken sehr mild!“
„Ich habe kein Recht, anders zu denken.“
„Und doch haben Sie unter den Folgen einer solchen Tat schwer zu leiden gehabt!“
„Nein. Ich habe die Mutterliebe nicht vermißt, weil ich sie niemals kennengelernt hatte. Andere Liebe habe ich reichlich gefunden.“
„So sind Sie also nicht zu beklagen?“
„Nein.“
„Und folglich kann Ihnen daran, Ihre Eltern zu finden, gar nichts gelegen sein?“
„Hierin irren Sie freilich. Ich möchte viel, sehr viel darum geben, wenn ich nur ein Weniges über meine Eltern erfahren könnte.“
„Sie leben wohl beide nicht mehr. Sonst hätten sie doch nach Ihnen gesucht.“
„Sie haben gesucht, aber mich nicht gefunden.“
„Sonderbar! Wenn Sie das wissen, so sind Sie es, der sich
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