7 Minuten Zu Spät
seine Linse auf die Frau, die anscheinend Wehen hatte. Eines der Fotos war neben dem Artikel abgedruckt. Man konnte verschwommen die Brücke und eine Frau erkennen, die sich auf dem Geländer abstützte. Ihr Kopf war vornübergebeugt, und sie hatte die Ellbogen angewinkelt, als wolle sie verhindern, dass sie fiel. Man fragte Capa, ob sie gefallen sei, und er antwortete, nein, sie habe sich wieder aufgerichtet und sei langsam weitergegangen. Als man ihn fragte, warum er diese Information damals zurückgehalten habe, erklärte er, er läse keine Zeitungen und besäße keinen Fernseher, außerdem sei er kurz nach Christines Verschwinden nach Bali gereist, wo er ein Haus besitze.
»Ich rief ihr zu, ob sie Hilfe brauche«, wurde Capa im Artikel zitiert, »aber sie sagte, nein, sie habe Wehen und sei auf dem Weg ins Methodist Hospital.« Die naheliegende Frage, warum Christine Craddock sich nicht selbst ein Taxi gerufen hatte, beantwortete Erin Brinkley damit, dass Frauen im Anfangsstadium der Wehen gerne geraten wurde, herumzulaufen.
Alice dachte an ihre eigenen Entbindungen, wie sie sich, wenn die Wehen kamen, alle paar Minuten vor Schmerzen gekrümmt hatte. Zum Schluss hatte sie nicht mehr laufen können. Wie weit mochte Christine gekommen sein, bevor sie nicht mehr weitergehen konnte?
Sie wandte sich zu dem Artikel über Lauren, und ihr tat das Herz weh, als sie las: Lauren Barnet machte ihr Examen an der Harvard Law School, gab jedoch ihren Beruf auf, um zu Hause bei ihren Kindern zu bleiben. Sie hinterlässt ihren Ehemann, Tim Barnet, und einen fünfjährigen Sohn, Austin.
Und auch sie gingen jetzt weg, und Alice blieb nichts mehr aus ihrem Leben mit Lauren.
Angewidert schob Alice die Zeitung weg. Warum musste das alles Menschen passieren, die sie kannte? In ihrer Nachbarschaft? In ihrem Zuhause?
Im Haus war es unheimlich still. Noch nicht einmal Julius schien zu Hause zu sein, oder aber er bewegte sich so leise in seiner Wohnung, dass sie ihn nicht hören konnte.
Draußen fuhr ein Auto vorbei, und die Balken des Hauses knarrten und ächzten.
Sie rief im Polizeipräsidium an und hinterließ eine Nachricht auf Frannies Anrufbeantworter: »Bitte rufen Sie mich zurück. Ich sitze hier und drehe durch. Haben Sie heute die Zeitung gelesen? Ich glaube, es ist der Künstler, der mich verfolgt.« Sie wusste, dass ihre Nachricht paranoid klang, und sie schämte sich auch dafür, aber andererseits war sie wütend, weil sie das Gefühl hatte, mit ihren Ängsten nicht ernst genommen zu werden.
Nachdenklich schob sie die Krümel auf dem Küchentisch zu einem kleinen Berg zusammen.
Andre Capa.
Vielleicht war er der Limousinenfahrer. Vielleicht arbeitete er für Metro. Vielleicht war es ja sein Job, Julius Pollack von seinen eigensinnigen Mietern zu befreien. Aber was wollten sie mit den Babys?
Um auf andere Gedanken zu kommen, griff sie zu einem Block und begann mit einer Einkaufsliste. Milch, Brot, Orangen, Vollkorn-Cracker, ganz alltägliche Dinge. Ohne den Stift abzusetzen, schrieb sie auf ein anderes Blatt Umzug, Baby-Vorbereitungen, Kinder/Schule, Blue Shoes. Für jeden Punkt, der ihr einfiel, erstellte sie eine neue Liste. Lauren/Ivy. Phantom-Baby. Pam. Julius/Partner. Capa/Spanner. Ermittlungen. Neuigkeiten. Angst davor, die Nächste zu sein.
Sie rief bei Frannie an, bei Giometti, und hinterließ weitere Nachrichten. »Rufen Sie mich an.« Auch bei Mike sprang nur der Anrufbeantworter an. »Ruf mich an. Bitte.« Dann fiel ihr Maggie ein.
Maggie kam sofort ans Telefon.
»Hast du heute früh Zeitung gelesen?«
»Alice? Nein, noch nicht. Was ist los?«
Sie beschrieb Maggie, wie ihr Vormittag verlaufen war, und die Freundin hörte ihr zu, ohne sie zu unterbrechen. Fünfzehn Minuten später stand sie vor Alices Wohnung.
»Wenn Mohammed nicht zum Berg kommen kann…«
Maggie küsste Alice zur Begrüßung auf die Wange und trat ein.
»Jason macht den Laden auf«, sagte Alice. »Ich darf nicht aus dem Haus gehen. Man hat mir befohlen, hier zu bleiben und zu warten, aber ich weiß nicht, worauf ich eigentlich warte. Ich…«
»Ganz langsam, Liebes. Beruhige dich erst mal.« Maggie drückte Alice auf einen Stuhl, brachte ihr ein Glas Wasser und setzte sich neben sie. »Um den Laden mache ich mir keine Gedanken, ich mache mir Sorgen um dich. Du bist ja völlig außer dir. Hast du denn nicht geschlafen?«
Alice schüttelte den Kopf. »Nicht viel.«
»Aber du hast doch die Schlaftabletten!«
»Ich bin schwanger,
Weitere Kostenlose Bücher