7 Werwolfstories
nichts. Nach kurzer Zeit wird der Doktor sich gezwungen sehen, sie zu untersuchen. Und dann …«
»Sie wird den Wolf sehen?« wiederholte ich. »Wirklich sehen?«
»Ja.«
»Wann?«
»Heute nacht, wenn du willst.«
Ich nickte langsam. Dann überfielen mich Zweifel. »Aber sie ist schon beinahe völlig mit den Nerven fertig. Sie wird sich zu sehr fürchten, in den Wald zu gehen.«
»In diesem Fall wird der Wolf zu ihr kommen.«
»Gut. Ich werde die Spuren verwischen, genau wie heute früh.«
»Ja. Und es wäre besser, wenn du heute nacht nicht in der Hütte bliebest. Du bist ein sensibler Mensch, Charles. Es würde dir weh tun, die Panik deiner Frau mit ansehen zu müssen.«
Violets Bild trat vor meine Augen – das Bild ihres angstverzerrten Gesichts, ihrer aufgerissenen Augen, ihres Mundes, der sich zu einem gellenden Angstschrei öffnete, als das Ungeheuer aus ihrer Phantasie sich plötzlich vor ihr zum Sprung duckte. Ja, genauso würde es sich abspielen, und zwar bald.
Ich lächelte.
Lisa lächelte zurück. Als ich wegging, konnte ich sie lachen hören, und mir kam der Gedanke, daß an ihrer Heiterkeit etwas Unnatürliches sei.
Dann begriff ich die Wahrheit. Lisa war selbst nicht ganz normal.
An diesem Abend wechselten wir beim Essen kein Wort. Als der Mond über dem See aufstieg, stand Violet auf und ließ die Rollos herunter, wobei sie das Gesicht verzog.
»Was ist. Liebes? Ist es zu hell für deine Augen?«
»Ich hasse es, Charles.«
»Aber es ist doch wunderschön?«
»Nicht in meinen Augen. Ich hasse die Nacht.«
Ich konnte es mir leisten, großzügig zu sein. »Violet, ich habe nachgedacht. Diese Gegend hier ist nicht gut für deine Nerven. Meinst du nicht, daß es für dich besser wäre, in die Stadt zurückzufahren?«
»Allein?«
»Ich würde nachkommen, sobald ich mit meiner Arbeit fertig bin.«
Violet strich sich eine kastanienbraune Locke aus der Stirn. Es traf mich wie ein Schlag, als ich bemerkte, daß der kupfrige Schimmer verschwunden war. Das Haar hatte keinen Glanz mehr; es sah stumpf und leblos aus.
»Nein, Charles. Ich könnte nicht allein fahren. Er würde mir folgen.«
»Er?«
»Der Wolf.«
»Aber Wölfe gehen nicht in die Städte.«
»Gewöhnliche Wölfe nicht. Aber dieser …«
»Wieso denkst du, daß dieser Wolf, den du – äh – siehst, kein gewöhnlicher ist?«
Sie bemerkte mein Zögern, aber ihre Verzweiflung war stärker als ihre Zurückhaltung. Sie sprach hastig weiter.
»Weil er nur nachts kommt. Weil es hier keine echten Wölfe gibt. Weil ich das Böse spüre, das von ihm ausgeht. Er läuft nur mir nach, Charles – er verfolgt mich! Und nur mich allein. Er scheint darauf zu warten, daß etwas geschieht. Wenn ich fortginge, würde er mir folgen. Ich kann ihm nicht entkommen.«
»Du kannst ihm nicht entkommen, weil er in deinem Gehirn ist«, schnappte ich. »Violet, ich habe sehr viel Geduld gehabt. Ich habe meine Arbeit vernachlässigt und mich um dich gekümmert. Ich habe mir deine Phantastereien jetzt zwei Wochen lang angehört. Aber wenn du dir nicht selbst helfen kannst, dann müssen andere es tun. Ich war heute nachmittag so frei und habe deinen Fall mit Doktor Meroux besprochen. Er möchte dich sehen.«
Unter der Wucht meiner Anschuldigungen und Behauptungen schien sie zusammenzubrechen.
»Dann ist es also wahr«, flüsterte sie. »Du glaubst wirklich, daß ich den Verstand verloren habe …?«
»Es gibt keine Werwölfe«, sagte ich. »Ich kann eher an eine geistige Verwirrung als an ein übernatürliches Wesen glauben.«
Ich stand auf.
»Wo gehst du hin?« fragte Violet entsetzt.
»Zu Leon«, sagte ich. »Ich brauche einen Drink. Diese Sache geht mir auf die Nerven.«
»Charles, laß mich nicht allein – heute nacht.«
»Angst vor imaginären Wölfen?« fragte ich sanft. »Na hör mal, meine Liebe! Wenn du
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