711 N. Chr. - Muslime in Europa
»beschnittenen Völkern« zerstört werden würde. Um das drohende Schicksal abzuwenden, habe sich Herakleios mit einem Hilfegesuch an den merowingischen König Dagobert I. (gest. 638/39) gewandt. Der byzantinische Kaiser hatte die Weissagung so verstanden, dass seinem Reich Gefahr von den Juden drohe. Allerdings konnte er nicht bestimmen, aus welcher Himmelsrichtung das Unheil kommen sollte. Dem merowingischen Geschichtsschreiber zufolge wollte sich Herakleios für den Fall einer jüdischen Bedrohung der Unterstützung Dagoberts versichern. Er bat den Merowingerkönig deshalb, alle Juden seines Reiches taufen zu lassen. Der Kaiser selbst wollte in seinem Herrschaftsbereich das Gleiche zu tun. Offenbar war diese Erklärung die einzige, die der merowingische Chronist aus eigener |41| Erfahrung haben konnte. Dass die Araber ebenfalls die Beschneidung praktizierten, war ihm vollkommen unbekannt. Immerhin werden diese auf dem Höhepunkt seines Berichts erwähnt: Die Fredegar-Chronik schildert die byzantinischen Niederlagen gegen die »Sarazenen« und weiß von deren Eroberung Jerusalems. Dass der Kaiser allerdings seine Hauptstadt räumen musste, entspringt der Fantasie des Chronisten. Woher die schlagkräftigen »Sarazenen« kamen, wusste er nicht genau. Er glaubte einen Berg des Kaukasus am Schwarzen Meer als Herkunftsort ausmachen zu können. Über den neuen Glauben jedoch oder über den Propheten Mohammed erzählt er nichts.
Noch lange, nachdem die Muslime auf der Iberischen Halbinsel Fuß gefasst haben, interessieren sich die christlichen Geschichtsschreiber des frühmittelalterlichen Europas nicht für deren Glauben. In den erzählenden Quellen des 8. bis 10. Jahrhunderts werden die
Sarraceni
lediglich als fremde Eindringlinge wahrgenommen – auf gleicher Stufe mit den Wikingern. Das trifft auch für Werke zu, die fernab vom Geschehen entstanden sind, wie etwa die »Kirchengeschichte des englischen Volkes« aus der Feder des angelsächsischen Mönchsgelehrten Beda Venerabilis (gest. 735). Beda hatte Kenntnis von der Schlacht bei Tours und Poitiers im Jahre 732. »Zu dieser Zeit«, so berichtet er, »verheerte das schreckliche Unheil der Sarazenen Gallien durch ein schreckliches Blutbad, und sie erlitten kurz darauf in diesem Land die ihrem Unglauben gebührende Strafe.« Doch selbst in solchen Regionen, in denen sich die Christen mit den Muslimen militärisch auseinandersetzen – im Süden Italiens und auf der Iberischen Halbinsel – tauchen in den überlieferten Schriftzeugnissen noch keine Aussagen über den Islam auf. Erst in der lateinischen Übersetzung der griechischen Chronik des Byzantiners Theophanes Homologetes (gest. 817/18) aus dem 9. Jahrhundert taucht erstmals eine Wertung Mohammeds auf. Er wird in der Schrift als »Pseudoprophet« bezeichnet. Dieses Urteil steht am Beginn der langen Auseinandersetzung mit dem Religionsstifter im Abendland.
|43| + + + Kampf um die Iberische Halbinsel – Widerstand formiert sich in Asturien + + +
Vernichtend schlagen die arabischen und berberischen Invasoren das westgotische Heer unter Führung König Roderichs am Guadalete. Bald darauf fällt die Hauptstadt Toledo in die Hand der Muslime. Immer weiter bahnen sich die Eroberer ihren Weg. Die westgotische Elite flieht in die unwirtlichen Berge Asturiens und Kantabriens im Norden. Über weiten Teilen der Iberischen Halbinsel weht von nun an das Banner des Propheten Mohammed. Doch schon formiert sich der christliche Widerstand. Bei Covadonga gelingt es zum ersten Mal, die Muslime zu besiegen. Die Reconquista beginnt.
|44| Ein König mit Problemen
Baskisch-westgotisches Grenzgebiet, Frühjahr 711. König Roderich hatte allen Grund zur Sorge. Die stolzen Basken wiedersetzten sich nicht nur standhaft den Expansionsgelüsten ihrer westgotischen Nachbarn, sie stifteten auch immer wieder Unruhe im Grenzgebiet. Daher war der Herrscher mit seinem Heer nach Norden aufgebrochen, um die baskischen Aufrührer in die Schranken zu weisen. Doch auch aus dem Süden drohte Gefahr. An verschiedenen Orten der Region Baetica waren im vergangenen Sommer Gruppen fremder, bewaffneter Reiter gesehen worden. Den Berichten der Boten zufolge war es da und dort zu kleineren Scharmützeln mit den Fremden gekommen. Kleidung, Aussehen und Sprache der Eindringlinge ließen keine Zweifel daran, dass die Männer von jenseits des Meeres stammten. Roderich wusste aus eigener Erfahrung, dass die Provinz immer wieder von berberischen und arabischen
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