711 N. Chr. - Muslime in Europa
Unterwerfung gleichgekommen sein. In diesem Fall obsiegte |93| Pragmatismus über religiöse Prämissen – nicht zuletzt Resultat der Zersplitterung islamischer Zentralgewalt, die sich auch in den variablen Titeln der Taifenkönige widerspiegelt. Obwohl sie als Souveräne in ihrem Machtbereich regierten, Privilegien vergaben, nach Belieben Ämter des Verwaltungsapparats besetzten oder Münzen prägten, beanspruchte wegen der herausragenden religiösen Bedeutung für die
umma
keiner der Taifenherrscher die Titel Imam, Kalif oder
Amir al-Mu’minin.
In Toledo, der flächenmäßig größten und neben Sevilla und Zaragoza bedeutendsten Taifenherrschaft, schwang sich der arabisierte Berberclan der Banu Dil-Nun zur Macht auf. Die zum Stamm der Hawwara gehörigen Banu Dil-Nun waren im 9. Jahrhundert zunächst in Santaver ansässig geworden. Abd ar-Rahman ben Dil-Nun hatte schon am Ende des omaijadischen Kalifats und während der Unruhen der Folgezeit versucht, seinem Sohn Ismail az-Zafir den Weg zur Herrschaft im Taifenreich Toledo zu ebnen. Sein Nachfolger Yahya ibn Ismail mit dem Beinamen
al-Ma’mun
(1042/43–1075), der über dreißig Jahre die Geschicke Toledos bestimmte, bescherte der Stadt ein Blütezeit. Er war ein Förderer von Wissenschaft, Kunst und Literatur. Sein Hof in Toledo zog namhafte Vertreter unterschiedlicher Disziplinen an, etwa den aus Almería stammenden Saīd »el Toledano«, die Astronomen Abu l-Qasim und Azarquiel (Abu Ischaq Ibrahim), den Universalgelehrten Abu Yafar, den Arzt, Philosophen und Mathematiker Abu Utman Said Muhammad Ibn al-Bagunisch oder den zu dieser Zeit wohl bedeutendsten Toledaner Heilkundigen und Autor des Werkes »Summe der Ackerbaus«, Ibn Wafid. Doch wirkten nicht nur muslimische Gelehrte im Umfeld der toledanischen Herrscher, Juden standen ebenso in ihren Diensten, darunter der Heilkundige Ischaq ibn Qastar, der 1056 hochbetagt in Toledo starb. Zu den angesehenen jüdischen Würdenträgern in der Stadt zählte zu dieser Zeit die Familie des bedeutenden Religionsphilosophen Jehuda Ha-Levi, der um 1080 geboren wurde und von dessen Werk an anderer Stelle noch die Rede sein wird.
Weniger deutlich erscheint die Rolle der Mozaraber im Toledo der Taifenzeit. Fest steht, dass der Bischofsstuhl während des 10. Jahrhunderts vakant war. Die mozarabische Gemeinschaft |94| muss klein gewesen sein und hat wohl im geistigen Leben keine Akzente gesetzt. Eindeutige Belege, dass auch Mozaraber von der Blüte des toledanischen Taifenreiches angezogen wurden und sich dort noch in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts niederließen, fehlen. Muslime und eine bedeutende jüdische Minderheit bilden mithin den Kern der Stadtbevölkerung am Vorabend der christlichen Rückeroberung.
Toledo wieder in christlicher Hand
Die Vorgeschichte wie auch die Umstände der christlichen Wiedereinnahme Toledos durch König Alfons VI. sind von der historischen Forschung unterschiedlich dargestellt und bewertet worden. Im Jahre 1072 hatte sich Alfons VI. gegen seine Brüder behauptet und die Herrschaft über die Reiche Kastilien, León und Galicien errungen. Fortan nannte er sich »Rex Hispanniae«. Dem Anspruch dieses Titels Rechnung tragend, setzte der König auf Krieg und suchte sein Herrschaftsgebiet zu vergrößern. Der bedeutendste und symbolträchtigste Erfolg dieser Expansionspolitik war die Rückgewinnung Toledos, der einstigen Hauptstadt der Westgoten. Wie sehr sich auch die Muslime der herausragenden Bedeutung des christlichen Triumphs bewusst waren, belegen die Ausführungen des Taifenherrschers von Granada, Abd Allah ibn Buluqqin. In seinem zeitgenössischen Werk betont er, dass der Fall Toledos die Muslime in ganz al-Andalus mit Schrecken erfüllt und ihnen alle Hoffnung genommen habe, weiterhin auf der Iberischen Halbinsel leben zu können. Hatte Alfons im Zuge des königlichen Familienzwists 1071 bei dem Taifenherrscher al-Ma’mun noch vorrübergehend Schutz vor seinem Bruder Sancho II. gesucht, änderte sich die Situation nur wenige Jahre später entscheidend: Der Tod al-Ma’muns im Jahre 1075 stürzte die Taifa von Toledo in eine existentielle Krise. Sein Enkel und Nachfolger al-Qadir vermochte sich gegen die starken oppositionellen Kräfte allein nicht durchzusetzen, floh 1080 aus der Stadt und ersuchte Alfons VI. um Hilfe. Kurzfristig vermochte al-Qadir dank der Hilfe des christlichen Königs 1081 die instabile Herrschaft noch einmal zu übernehmen, doch seine wachsende Abhängigkeit
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