711 N. Chr. - Muslime in Europa
vom Wohlwollen |95| Alfons’ VI. verstärkte den Unmut unter der muslimischen Bevölkerung. Es zeichnete sich ab, dass al-Qadir angesichts der Umstände auf Dauer als Herrscher nicht haltbar sein würde.
Welche Gruppen bildeten diese Opposition gegen den letzten Taifenherrscher aus dem Hause der Banu Dil-Nun, die am 6. Mai 1085 letztlich zum christlichen Einmarsch führte? Die Ansichten der Forscher darüber gehen auseinander. Manche meinen, zwei oppositionelle Gruppen hätten gewirkt: die in der Stadt ansässigen Mozaraber und die Parteigänger des Taifenherrschers von Badajoz, Umar al-Mutawwakil. Anderen Meinungen zufolge spielten allein die toledanischen Mozaraber eine entscheidende Rolle bei der Wiedergewinnung der Stadt. In diesem Zusammenhang wird auf die Schlüsselposition des mozarabischen Grafen von Coimbra, Sisnando Davídiz (gest. 1091), im engsten Umfeld Alfons’ VI. hingewiesen. Nach jüngsten Untersuchungen sprechen alle Fakten dafür, dass es in Toledo vor der Machtübernahme durch Alfons allenfalls eine unbedeutende Minderheit mozarabischer Christen gegeben hat; so erscheint es mehr als unwahrscheinlich, in dieser Gruppe eine nennenswerte Bedrohung von al-Qadirs Herrschaft zu sehen. Geeignete Belege für eine mozarabische Beteiligung an der Rückgewinnung Toledos fehlen, zudem besaß der aus Portugal stammende Sisnando Davídiz offenbar keine familiären Wurzeln in Toledo. Allerdings fungierte er mehrfach als Gesandter des Königs von Kastilien-Léon und hatte zweifelsohne maßgeblichen Anteil an den Verhandlungen mit al-Qadir
.
Ebenso unwahrscheinlich erscheint die Hinwendung einer größeren Gruppe von Muslimen zu einer christlichen Herrschaftsübernahme. Laufen schon theologische Vorstellungen einem Leben unter christlicher Dominanz zuwider, belegt die massenhafte Auswanderung der Muslime in der unmittelbaren Phase vor der Rückeroberung – insbesondere der muslimischen Eliten – die praktische Einhaltung der religiösen Normen. Am wahrscheinlichsten ist somit, dass die muslimische Bevölkerung Toledos auf die Unterstützung des Taifenherrschers al-Mutawwakil von Badajoz setzte, um die zunehmende Abhängigkeit von Alfons VI. abzuschütteln und die Souveränität zu behaupten. Dieser Plan ging jedoch nicht auf.
|96| Seit 1082 erhöhte König Alfons VI. von Kastilien-León den militärischen Druck auf Toledo. Sein Heer verwüstete die umliegenden Felder und nahm mehrere strategisch wichtige Festungen ein. Der Überlieferung zufolge hatte al-Qadir angeboten, die Stadt aufzugeben, wenn Alfons ihm im Gegenzug zum Thron von Valencia verhelfen würde. Im Spätsommer 1084 begann der König mit der Belagerung Toledos. Die Taktik der verbrannten Erde tat ein Übriges, die Kapitulation zu beschleunigen. Um der drohenden Hungersnot zu entgehen, waren gemäß der Schilderung des zeitgenössischen Geschichtsschreibers Ibn Bassam as-Santarini die meisten muslimischen Einwohner bereits aus der Stadt und dem Umland geflohen. Ibn al-Kardabus hingegen vermerkt, dass seine Glaubensgenossen erst vor dem herannahenden alfonsinischen Heer aus Toledo flüchteten. Zu den ersten Auswanderern gehörte die geistige und geistliche Elite, darunter Ibn Wafid. Der in Toledo geborene Mathematiker und Astronom Azarquiel ließ sich in Córdoba nieder, wo er im Jahre 1100 starb. Auch der Heilkundige und Botaniker Ibn al-Lunquh, ein Schüler des Ibn Wafid, kehrte Toledo den Rücken. Seine Spur findet sich 1094 zunächst in Sevilla wieder, von wo er nach Córdoba weiterzog, um bis zu seinem Tod 1105 in der Stadt zu bleiben. Nur wenige Gelehrte blieben in Toledo. Die Grenze zur islamischen Welt war unmittelbar nach der christlichen Wiedergewinnung Toledos nah und offen, was eine Massenauswanderung erleichterte. Noch am Ende des 12. Jahrhunderts war die südliche Grenze zum islamischen Herrschaftsbereich kaum mehr als fünfzig Kilometer entfernt. Erst im Zuge wachsender Erfolge der Reconquista in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts rückte sie in so weite Ferne, dass Emigration kaum mehr möglich war.
Über das Verhalten der Juden während der Belagerung und Einnahme der Stadt gibt es keine Zeugnisse. Skepsis scheint gegenüber der Behauptung geboten, die bedeutende jüdische Gemeinde sei vollzählig in Toledo verblieben. Das islamische
dimma -Recht
gewährte den Juden Schutz von Leben und Besitz, dem deren vergleichsweise große Rechtsunsicherheit in christlichen Reichen gegenüberstand. Angesichts der Situation ihrer
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