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72 - Der Weg zum Glück 07 - Insel der Gefangenen

72 - Der Weg zum Glück 07 - Insel der Gefangenen

Titel: 72 - Der Weg zum Glück 07 - Insel der Gefangenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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Gott! Kannst du denn wirklich nicht reden?“
    Sie preßte die Lippen zusammen; sie schluckte und schluckte, um den überlauten Aufschrei ihres Herzens hinab zu bannen. Unter dieser geistigen und körperlichen Anstrengung erbebte ihre Gestalt.
    Er war schon früher ein schöner, junger Mann gewesen; aber jetzt, nachdem er eine so lange Zeit im Süden zugebracht hatte, waren seine Vorzüge weiter entwickelt worden. Und welch eine Zukunft lag vor ihm! Sie hatte davon gehört.
    Dieses Bewußtsein war es, was sie jetzt erzittern machte. Das Glück, welches sie hätte besitzen können, stand vor ihr; sie aber hatte es von sich gestoßen.
    Das war es, was ihre ganze Seele in eine Aufregung brachte, die sie nur unter Anstrengung all ihrer Kräfte noch für einige Augenblicke zu bemeistern vermochte. Sie hätte gern geantwortet, gar so gern; aber sie konnte ja nicht. Sie fühlte, daß sie laut aufschreien werde, wenn sie den Mund öffne.
    „Nun“, sagte er kalt, „wenn du nicht antworten kannst, so brauchtest du mich auch nicht zu rufen. Der armselige Schulmeister bin ich glücklicherweise nicht mehr!“
    Er drehte sich zum Gehen und öffnete die Tür. Schon stand er draußen, da ertönte hinter ihm im Zimmer ein Schrei – aber was für ein Schrei!
    Als er den Blick zurückwarf, sah er Martha auf dem Boden knien, mit dem Gesicht auf den Sitz des Stuhles gebeugt. Ein jämmerliches Schluchzen entquoll ihrer Brust.
    Da kehrte er langsam zurück und machte die Tür wieder zu. Die Hände über die Brust verschlungen, stand er da und blickte sie finster an.
    Er wartete, daß sie aufblicken und mit ihm sprechen werde – sie tat es nicht. Da wollte sich ein grimmiger Zorn seiner bemächtigen, er sagte in hartem Ton: „Martha, bist du fertig?“
    Als Antwort verstärkte sich ihr Weinen.
    „Gott, ach Gott! Was soll das Schluchzen helfen! Das Jammern macht's nicht anders.“
    Da hob sie langsam den Kopf und sah ihn an. Es war wie der Blick einer Sterbenden. Und erst jetzt kam ihm die Erkenntnis, daß sie unmöglich hatte reden können, daß er hart, gefühllos, grausam mit ihr gewesen sei.
    Im Nu kniete er neben ihr, schlang die Arme um sie und zog ihren Kopf auf seine Achsel. Er fühlte ihren Körper an sich beben; er fühlte, welch eine Revolution sie jetzt durchschüttelte. Er hob sie auf, ließ sie auf das Sofa gleiten, setzte sich neben sie und hielt sie innig an sich gepreßt.
    So lag sie nun an seinem Herzen, weinend aus allertiefstem Herzensgrund. Sie hatte den einen Arm um ihn gelegt, aber so leicht, so leise, daß er ihn kaum fühlte. Er wußte, weshalb. Sie hielt sich nicht für wert, von ihm umschlungen zu sein.
    Da nun kam abermals ein zorniger Grimm über ihn, aber jetzt nicht über sie, sondern über sich selbst. Wie weh hatte er ihr getan. Er hatte sie nicht verstanden und ihr im Gegenteil so unendlich weh getan! Er hätte sich selbst ohrfeigen mögen!
    So verging eine längere Zeit. Da wurde ihr Weinen schwächer und schwächer, bis es ganz aufhörte. Ihr Kopf lag still und ruhig auf seiner Achsel, das Gesicht nach unten gekehrt, so daß er es nicht sehen konnte.
    Aber ihre eine Hand hatte er; sie konnte er sehen. Sie war so fein und alabasterweiß.
    Dieses Händchen erzählte die ganze Geschichte des armen Mädchens, welches von der Höhe herabgeschleudert worden war in eine Tiefe, aus welcher man nicht leicht wieder hoffnungsvoll emporblicken kann.
    Früher hatten Ringe an diesen weißen Fingern geglänzt, Ringe, mehrere nebeneinander, als Zeichen eines grund- und haltlosen Bauernstolzes. Und jetzt? Ein einziger Reif umschloß den kleinen Finger. Aber er war nicht von Gold und auch nicht von Silber. Es war ein sehr, sehr dünnes Haargeflecht, kunstlos, als hätte sie es selber gemacht, und die Enden des Haares waren in einer schwarzen Perle vereinigt, nicht in einer echten, sondern in einer ganz gemeinen Glasperle, zwanzig und noch mehr Stück für einen Pfennig.
    Und da dachte er an den letzten Tag in Regensburg, damals, als er sie auf dem Maskenball des Gesangvereins als ‚Königin der Nacht‘ kennengelernt hatte.
    Damals hatte er halb im Ernst und halb scherzend gesagt, daß er ganz glücklich sein würde, wenn er ein kleines, kleines Lächeln oder Strähnchen ihres Haares besitzen könnte. Sie hatte es ihm verweigert, weil er sich wohl auch hüten werde, sich für sie eines Glöckchens seines dunklen Krauskopfes zu berauben.
    Um ihr das Gegenteil zu beweisen, hatte er das Federmesser herausgezogen und

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