760 Minuten Angst
tief steckte der Schock über das gerade Erlebte.
Noch ehe der junge Mann weitere unnötige Worte von sich gab, oder seine Freundin zurückkehrte, meldete sich ihr Handy. Erst ein paar Sekunden später registrierte Stella, dass sie das Mobiltelefon von »C« als ihres bezeichnet hatte. War sie ihm und seiner Schnitzeljagd endgültig verfallen?
Ich fürchte … ja.
Stella wusste nicht genau, warum sie ausgerechnet so handelte, doch sie vergaß mit einem Mal ihre Freundin und hievte sich hoch. Auf wackligen Beinen wollte sie sich von der Menge fortbewegen. Der junge Mann bot ihr seine Hilfe an, doch Stella winkte schroff ab.
»Nein … nein, danke. Ich … ich muss kurz … allein sein … für mich sein.«
»Aber der Notarzt, Lady. Er wird gleich da sein.«
»Und er wird mich … schon … finden.«
Ihr ging die Luft aus. Viel zu schnell, wie sie fand. Wann würde sie sich wieder erholt haben? War sie überhaupt noch in der Lage, diese Tortur fortzuführen?
Stella musste innerlich auflachen und ein gequältes Grinsen konnte sie sich ebenfalls nicht verkneifen, obwohl es in dieser Situation unangebracht war.
Als ob ich eine Wahl habe.
Mehr Gedanken ließ sie nicht zu, ehe sie um die Ecke des Wohnhauses bog und die neue Nachricht ihres Peinigers öffnete.
ICH DARF DOCH WOHL ANNEHMEN, LIEBE STELLA, DASS DU DER FEUERHÖLLE ENTKOMMEN BIST. NUN, WENN NICHT, HAT SICH DIESE NACHRICHT SOWIESO ERÜBRIGT UND WENN, DANN DARF ICH DIR GRATULIEREN. HERZLICHEN GLÜCKWUNSCH, LIEBE STELLA, DU HAST DIE ERSTE AUFGABE ERFOLGREICH GEMEISTERT. UND, HAST DU AUCH ETWAS DARAUS GELERNT? ICH HOFFE ES DOCH, NICHT, DASS MEINE GANZEN BEMÜHUNGEN UMSONST WAREN. ABER GENUG DAVON. DU KANNST DIR SPÄTER ÜBER DAS GROSSE GANZE GEDANKEN MACHEN. NUN ZU DEINER ZWEITEN AUFGABE. ICH HABE MIR DIESMAL EINEN GANZ BESONDEREN ORT FÜR DICH AUSGESUCHT. UND ZWAR MUSST DU DEN STERN AM PLATZ DER NONNE FINDEN. ABER DAS SOLLTE JA FÜR DICH KEIN PROBLEM DARSTELLEN. ACH JA, UND NOCH ETWAS, LIEBE STELLA. BITTE VERGISS NICHT, DASS DU - SOFORT - DORTHIN SOLLST. »C«
Noch während Stella die Nachricht von »C« auf seinem Handy las, liefen ihr bereits die ersten Tränen über die geröteten Wangen. Sie verstand sofort, was dieser Mistkerl von ihr wollte und was das alles für sie selbst bedeutete.
Ohne einen weiteren Gedanken blickte Stella ein letztes Mal zurück und um die Ecke. Sie sah das junge Pärchen, wie es über Katie kniete, während im Hintergrund die Sirenen der Feuerwehr und der Krankenwagen ertönten.
Die Hilfe würde gleich eintreffen und Katie würde wieder völlig gesund werden, da war sich Stella sicher. Alles würde gut werden … nur nicht für sie.
Eine Minute später sprang der erste Sanitäter aus dem Krankenwagen und machte sich daran, sich um die Verletzten zu kümmern. Doch Stella war bereits verschwunden.
Mit einem Schlag flog die Tür zu.
Schnellen Schrittes betrat Ben das Wohnzimmer und warf sich aufs Sofa. Er vergrub sein Gesicht in zwei großen Kissen, ehe er seiner Trauer freien Lauf ließ. Doch es waren nicht nur Tränen des Kummers, sondern auch der Angst, Verzweiflung und Reue.
Was habe ich nur getan? Was … was habe ich nur getan? Wie … konnte ich sie nur … töten …?
Tränen flossen in Strömen und Ben hatte nichts dagegen. Sie ließen seine Gedanken verstummen und Erinnerungen verblassen, bis nur noch Stille blieb … und Trauer.
Doch trotz all des Schmerzes war es nur eine Frage der Zeit, bis der Wasserfall versiegte und die Stimmen in seinem Kopf zurückkehrten. Zuerst Frau Schwaiger, wie sie ihn auslachte, ehe Angst und Flehen dem Gelächter wich, das sich in ewige Stille wandelte. Doch auch er selbst, oder besser gesagt, sein Gewissen, meldete sich zu Wort, ebenso wie seine geliebte Mutter.
Was habe ich nur … getan …?
Eine Frage, die immer wieder in seine Gedankenwelt eindrang und ihn zur Verzweiflung brachte. Es war eine Frage, die ihn zu dem Moment zurückwarf, wo er über Frau Schwaiger gebeugt kniete und ihr das Leben aus dem Hals presste. Er hatte sie getötet. Er hatte Frau Schwaiger getötet. Dies war die unauslöschliche Wahrheit.
Was mache ich nur? Ich meine, ich habe eine Frau getötet ! Wie kann ich … was soll ich … verdammt … ich meine … ich bin doch ein guter Kerl … ich … ich töte keine … keine Menschen … Frauen … ich …
Und doch habe ich sie getötet.
Ich habe sie getötet … ich bin … ein Mörder.
Ben richtete sich auf dem Sofa auf und starrte in die Leere.
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