760 Minuten Angst
Emilie ihre beste Freundin nach der Schule, manchmal gingen sie sogar gemeinsam zu Maries Elternhaus und unterhielten sich über alle möglichen Dinge in ihrem Zimmer. Emilie hatte auch ihre Eltern kennengelernt. Sie waren so freundlich, warmherzig und anständig. Alles, was ihr Papa nicht war.
Emilie hatte sich schon oft vorgestellt, wie es wohl wäre, Maries Schwester zu sein. Wie es sich wohl anfühlen würde, Teil ihrer Familie zu sein. Natürlich würde auch sie nicht perfekt sein, aber welche war das schon? Es ging schließlich nur darum, dass sie normal war. Dass sie sich um sie kümmern würden, wie es normale Eltern eben taten. Und nicht so schlimme Dinge mit ihr anstellten wie … wie ihr Papa.
Es war Emilie fast unheimlich, wie viel Tränen sie produzieren konnte. Hätten ihre Tränendrüsen nicht längst versiegt sein müssen? Und doch weinte sie, ließ ihrer Trauer freien Lauf, bis sie plötzlich hochschreckte und der Tränenfluss verebbte.
Nein!
Nein … ich will nicht mehr.
Ich will nicht mehr weinen.
Ich will nicht mehr verletzt werden.
Ich … ich will endlich … leben !
Selbst Emilie wusste nicht, woher diese unerwartete Stärke kam, doch sie war nicht unterdrückbar und sie wollte es auch gar nicht. Sie wollte diese Kraft nutzen und endlich aus dieser Hölle ausbrechen.
Sie warf sich aus dem Bett, zog ihren Slip und ihre Hose an und suchte im Dunkeln nach ihrer Jacke. Zum Glück hatten sie gerade Vollmond, weswegen die Suche nicht lange währte. Emilie wagte es einfach nicht, das Licht anzuschalten. Sie wollte ihren Papa in diesem Zustand auf keinen Fall wecken, geschweige denn reizen.
Dann kramte sie ihre Reisetasche unterm Bett hervor. Selbst im Mondlicht konnte Emilie deutlich den Staub darauf erkennen. Doch dieses Detail war nebensächlich. Jetzt ging es nur um ihre Flucht. Sie musste schnell und leise sein, nicht, dass ihr Papa doch noch Wind davon bekam und sie womöglich daran hindern konnte.
So, wie er jetzt gerade drauf ist, würde er mich höchstwahrscheinlich umbringen, wenn er mich bei der Flucht erwischt.
Und obwohl Emilie große Angst hatte, öffnete sie zaghaft ihren Kleiderschrank und warf alles hinein, was sie als nötig erachtete. Erst als die Tasche überquoll und der Reißverschluss gerade noch zuging, war sie mit dem Ergebnis zufrieden. Mit der Reisetasche in beiden Händen machte sie sich auf den Weg zur Haustür.
Emilie hatte wohl ihr ganzes Leben noch nie solange gebraucht, um von ihrem Zimmer zur Haustür zu gelangen, doch sie wollte kein verdächtiges Geräusch verursachen. Kurz vor der Haustür stellte Emilie die Tasche ab, um sich ihre Schuhe anzuziehen. Dann öffnete sie die Tür.
Natürlich machte diese Geräusche und Emilie zuckte bereits innerlich zusammen. Sie machte sich auf eine Konfrontation mit ihrem Papa gefasst, doch nichts geschah. Nach einer guten Minute wagte sie endgültig die Flucht und schloss, so leise es ging, die Tür hinter sich.
Dann hielt sie nichts mehr zurück.
Emilie lief.
Sie lief so schnell, wie sie noch nie in ihrem Leben gelaufen war, und das mit einer schweren Reisetasche auf ihrer Schulter. Doch sie konnte nur an die Flucht denken und an Marie, die sie hoffentlich aufnehmen würde, auch wenn es nur für einen Tag war. Es wäre genug. Es wäre mehr als genug.
Und dann verschwand Emilie hinter der nächsten Straßenecke. Sie blickte nicht zurück.
Nachdem ich mir ein wenig Ruhe gegönnt hatte, widmete ich mich erneut meiner Schnitzeljagd und den dazugehörigen Monitoren. Abermals ging ich einen Spieler nach dem anderen durch. Benjamin hatte ich aus meinem Gedächtnis gestrichen. So wie es sein sollte.
Stellas gelber Punkt blinkte weiterhin auf dem Nonnenplatz und es war nur eine Frage der Zeit, bis sich dieser in Bewegung setzte. Nur war es dann nicht Stella selbst, die ihren Körper zum letzten Spielplatz tragen würde. Ich hatte schließlich volles Vertrauen in meinen Partner.
Mit einem Grinsen im Gesicht verließen meine Augen den GPS-Monitor und verfolgten das Geschehen rund um Jakob und seine Familie. Die fünf Minuten waren zwar noch nicht rum, aber fast und noch immer war das Familientrio am Leben. Jakob würde mich doch nicht enttäuschen? Hätte ich ihn womöglich noch mehr unter Druck setzen müssen?
Nein. Schon gut. Ich muss Geduld haben. Vielleicht waren fünf Minuten zu wenig. Schließlich muss er sich von einem Teil seiner Familie verabschieden und dann auch noch töten. Ich muss dafür Verständnis
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