77 Tage
über dem Kopf.«
Die Psychologin zog die Augenbrauen hoch. »Soweit ich das in der kurzen Zeit beurteilen kann, haben Sie drei Möglichkeiten: Entweder machen Sie alles wieder wie gewohnt und ignorieren sein Meckern …«
Sie meinte mich. Ich runzelte die Stirn.
»… oder Sie trennen sich …«
Mario schnaufte laut.
»… oder die mühsamste Variante: Sie versuchen beide, Ihr Verhalten dem Partner gegenüber zu ändern.«
An dem Punkt war ich auch ohne therapeutische Beratung schon angekommen. Seit Wochen versuche ich, unser Verhalten zu ändern. Dummerweise sind meine Versuche nicht erfolgreich gewesen. Sonst hätten wir kaum eine Beratung gebraucht.
Später fragte Mario, ob ich jetzt zufrieden sei. Nachdem ich hundertachtzig Euro zum Fenster hinausgeschmissen habe. Nur um zu erfahren, dass er recht hat. Dass eine Eheberatung rein gar nichts bringt.
Nein, ich bin nicht zufrieden.
Ich weiß noch immer nicht, wie ich etwas ändern kann.
32.
»Guten Morgen, Frau Schiller! Zeit aufzuwachen!«, flötete Hedi gewohnt fröhlich, als sie in dem stickigen, dunklen Raum die Vorhänge aufzog und das Fenster weit öffnete. »Ich lasse erst mal ein wenig frische Frühlingsluft herein!«
Ich stand mit dem Pflegekoffer in der Hand in der Tür und versuchte, mir meine Anspannung nicht anmerken zu lassen. Mein Herz raste in einer Geschwindigkeit, von der mir schwindelig wurde. Ich wusste, was passiert war. Ich konnte den Fall aufklären. Jetzt und hier. Das war die Gelegenheit.
Die bettlägerige Frau Schiller hielt die Augen wie immer geschlossen und von ihrer Schwiegertochter fehlte außer dem allgegenwärtigen Zigarettengeruch jede Spur.
»Karin Küppers«, sagte ich.
Hedi hielt inne, die Arme noch zu den aufgezogenen Gardinen erhoben, den Blick aus dem Fenster in den leichten Regen gerichtet.
»Karin Küppers hat damals deine Abtreibung durchgeführt.«
Ich registrierte, wie sich Hedis lange, knochige Finger in den schweren Stoff der Gardinen krallten. Ich habe recht, schrie die Detektivin in mir triumphierend. Hedi hatte ja nicht wissen können, dass mir Ingelore Schramm neben der Leiche der Giftspritze von deren Verbrechen berichtet hatte.
Hedis Kopf sackte tief zwischen ihre Schultern. Sie starrte hinunter auf die Straße.
»Sie war die Frau des Pastors«, flüsterte ich.
»Vorher hatte sie angeblich in der Geburtshilfe gearbeitet«, bestätigte Hedi. »Sie gab vor, Mädchen, die in Schwierigkeiten geraten waren, helfen zu wollen. In Wirklichkeit wollte sie sie bestrafen. Für die Sünde, die sie begangen hatten. Viel später habe ich erfahren, dass ich nicht die Einzige gewesen bin, die unfruchtbar wurde.«
Hedi drehte sich zu mir um. Ihre normalerweise müde nach unten hängenden Augen hatten sich zu funkelnden Schlitzen verengt. »Die Alte kam mir gleich bekannt vor. Doch begriffen hab ich es erst, als ich das Erinnerungsalbum mit ihr angelegt habe. Sie erzählte mir, dass sie die Frau des Pastors gewesen sei. Sie war auch noch stolz darauf.«
Echter Zorn verzerrte Hedis Gesicht. Zum ersten Mal, seit ich sie kannte. »Die Hexe war durch und durch böse. Selbst in vollkommen orientierungslosen Phasen hat sie nichts bereut. Im Gegenteil: Junge Frauen hat sie immer noch als Huren beschimpft!«
Als die Küppers mich eine Nutte genannt hatte, hatte sie in mir eines der ungewollt schwangeren Mädchen gesehen, dem sie mit der Abtreibung eine Lehre erteilen wollte. In Gottes Namen.
»Wie hast du es gemacht?«
Hedis Augen flitzten zur Tür in meinem Rücken. Doch die war zu. Niemand hörte uns.
»Wie hast du Karin Küppers umgebracht?«, ließ ich nicht locker.
Plötzlich schien Hedi zu wachsen. Sie richtete sich auf, ließ die Schultern sinken, hob den Kopf. Stand zum ersten Mal vollkommen gerade. Sie war fast zwei Köpfe größer als ich. Riesig.
»Insulin. Die meisten alten Menschen leiden unter Altersdiabetes und bekommen regelmäßig Insulin gespritzt. Eine vernünftige Überdosis ist jedoch tödlich. Ein nahezu schmerzfreies Sterben: Der Körper unterzuckert, die Zellen werden nicht mehr ausreichend versorgt. Der Mensch dämmert langsam weg, fällt ins Koma und stirbt schließlich an Herzversagen – wenn er nicht zu früh gefunden wird. Dann kann der Prozess durch die Gabe von Zucker gestoppt werden. Deshalb habe ich den Akku aus ihrem Telefon entfernt. Und wir sind an diesem Tag erst ganz am Ende unserer Tour zu Frau Küppers gefahren. Um auf Nummer sicher zu gehen.« Sie zögerte kurz.
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